„Die Rentenpolitik schert sich nicht um Mathematik“
Ökonom Bernd Raffelhüschen, Experte für Generationenverträge an der Universität Freiburg, kritisiert die derzeitige Rentenpolitik der Ampelregierung scharf und fordert grundlegende Reformen. Wir sprechen mit dem Finanzwissenschaftler über seine Sicht auf das Rentenpaket II.
AGEV: Was halten Sie vom Plan der Ampel, das Rentenniveau zu belassen, wie es ist?
Bernd Raffelhüschen: Man kann das Leistungsniveau nicht bei 48 Prozent halten, wenn man gleichzeitig das Renteneintrittsalter nicht erhöhen, die Beiträge nicht erhöhen und den Bundeszuschuss nicht erhöhen will. Das Rentenpaket II ist schlichtweg eine Quadratur des Kreises und kann so nicht funktionieren. Im Kern ist es nichts anderes als die Umkehrung der Agenda 2010: Damals haben wir mit dem Nachhaltigkeitsfaktor gesagt, wir wollen die Beiträge konstant halten und dafür das Rentenniveau absinken lassen nach Maßgabe der demografischen Entwicklung. Das Rentenniveau zu garantieren, ist das Gegenteil von dem, was verursachergerecht wäre. Die wenigen Beitragszahler der Zukunft sind ja die Kinder der Babyboomer, die viel zu wenig Kinder in die Welt gesetzt haben und bald massenhaft in Rente gehen werden. Das heißt: Hubertus Heil legt die demografische Last nicht auf die Schultern der Verursacher. Im Gegenteil, sie kommen ungeschoren davon und die Jungen und Erwerbstätigen, die nichts dafürkönnen, dass sie so Wenige sind, werden belastet. Das ist politökonomisch völlig falsch. Hubertus Heil macht natürlich das, was ihm die meisten Stimmen bringt, das spürt man ganz klar. Die Mehrheit der Wähler sind Rentner oder im rentennahen Alter.
AGEV: Kann das „Generationenkapital“ als neue Finanzquelle dienen?
Bernd Raffelhüschen: Das Generationenkapital ist ja nichts anderes als eine Fondslösung in Staatshand, ohne dass man individuelle Kontrollmechanismen dazusetzt. Ich halte davon eher nichts. Natürlich ist die Einführung eines Kapitaldeckungsverfahren als Ergänzung zum Umlageverfahren grundsätzlich sinnvoll. Hätten wir es in den 1990er Jahren wie die skandinavischen Länder gemacht, als sie die Kapitaldeckung in ihre Systeme einführten, stünden wir besser da. Damals wollte das aber keiner in Deutschland, und die Fehler der Vergangenheit sind irreversibel. Ich kann jetzt keinen Kapitalstock aufbauen, der den Babyboomern hilft, weil die Kapitaldeckung mindestens 25, eher 30 Jahre braucht. Über die lange Distanz kann man einen vernünftigen Schnitt machen. Aber in der kurzen Frist kann das voll nach hinten losgehen, das heißt, die Kapitaldeckung könnte Negativerträge induzieren.
Es gibt aber noch ein ganz anderes Argument, und das ist für mich das entscheidende: Wenn man dem Staat Geld in die Hand gibt, damit er darauf aufpasst, kann nichts Gutes dabei rauskommen. Kein Staatsfonds hat längere Zeit überlebt. Wir haben in Deutschland die Aktienrücklagen der Deutschen Telekom für die Abwrackprämie verbraten, statt sie den Postbeamten für ihre Pension zu geben. Der von Gesundheitsminister Hermann Gröhe eingeführte Pflegefonds steht zur Diskussion, um die Defizite der Pflegeversicherung zu decken. Wahrscheinlich wird er demnächst aufgelöst. Also Politikern Geld in die Hände zu geben und zu sagen, sie sollen darauf aufpassen, heißt nichts anderes, als dass sie Ihrem Hund zwei Knochen hinschmeißen und sagen, einer ist für morgen.
AGEV: Sie fordern, die Abschlagszahlungen bei früherem Renteneintritt deutlich zu erhöhen.
Bernd Raffelhüschen: Ja. Wir reden jetzt darüber, wie wir die Älteren länger in Arbeit halten können und wollen die längere Beschäftigung subventionieren. Wie wäre es denn damit, wenn wir die Subventionen für den vorzeitigen Ruhestand erstmal abschaffen? Die Rente mit 63 ist die Subvention des vorgezogenen Ruhestands durch alle anderen Beitragszahler. Die abschlagsfreie Rente ist für jeden, der rechnen kann, unglaublich attraktiv. Der durchschnittliche Rentner in Deutschland geht sogar schon mit 62 Jahren. Die Rechnung geht also nicht auf und ist eine Ungleichbehandlung zulasten der jüngeren Jahrgänge. Deshalb: Wer früher geht, muss mehr zahlen, so dass die Abschläge insgesamt dem entsprechen, was man länger an Rente bezieht. Wir müssen die Abschläge für den vorzeitigen Ruhestand sofort erhöhen, am besten von den 0,3 auf mindestens 0,4 Prozentpunkte. Die Zuschläge fürs Weiterarbeiten mit 0,5 sind in Ordnung, das lohnt sich. Das würde die Leute dazu bewegen, länger zu arbeiten und ist wichtig, weil wir Fachkräfte brauchen. Das größte Potenzial, das wir für den Arbeitsmarkt in Deutschland haben, liegt nicht in der Zuwanderung, sondern bei den Älteren und den Frauen.
AGEV: Was halten Sie denn grundsätzlich vom Vorschlag von Robert Habeck, finanzielle Anreize für eine längere Beschäftigung zu schaffen?
Bernd Raffelhüschen: Also wie wäre es, wenn wir statt der Subventionierung von längerer Beschäftigung die Subventionierung des vorzeitigen Ruhestandes beenden? Danach können wir über alles reden. Das sind doch rein populistische Vorschläge, die im Grunde genommen mit den Prinzipien der Rentenversicherung brechen – und das nur aus Angst, den Wählern erklären zu müssen, dass der vorgezogene Ruhestand eigentlich nicht mehr subventioniert werden kann. Davor haben die Politiker viel mehr Angst als vor der Subventionierung längerer Erwerbstätigkeit. Aber was ist der Sinn, wenn wir den vorgezogenen Ruhestand und die verlängerte Beschäftigung subventionieren? Wir haben in Deutschland so viele Subventionen wie noch nie.
AGEV: Länder wie Schweden gelten als Vorzeigebeispiel, wo auch Selbstständige und Beamte in die Kasse einzahlen. Kann das ein Vorbild für uns sein?
Bernd Raffelhüschen: Ich halte nicht sehr viel von Vorbildsuche, denn das setzt ein Verständnis der Systeme voraus. Man sieht es bei dem Generationenkapital, eine Übertragung aus dem schwedischen System, allerdings von Menschen, die nicht verstanden haben, wie die Schweden es gemacht haben. Die Schweden können die 2,5 Prozent Beitragsanteil vom Bruttogehalt, die sie in die Aktienrente einzahlen, entweder in einen aktiv gemanagten staatlichen Fonds oder in einen von über 100 privaten Fonds investieren. Das ist etwas anderes als das Generationenkapital in Deutschland.
Was die Selbstständigen und Beamten angeht: Wenn wir die Beamten mit all ihren Ansprüchen in das Rentensystem einfügen wollen, dann sind wir sofort pleite, das können wir uns gar nicht leisten. Es wäre besser gewesen, wir hätten auf die Verbeamtung verzichtet. Das predigen wir Ökonomen seit 30 Jahren und niemand hört auf uns. Dann hätten wir heute nur die hoheitlich-rechtlich Tätigen verbeamtet – was auch gut und vernünftig ist. Alle anderen wären draußen. Bei den Selbstständigen könnte man zwar auch was rausholen, allerdings ist das nur ein Liquiditätseffekt. Denn wenn die Selbstständigen ins Rentensystem einzahlen, muss man ihnen auch etwas geben. Außerdem macht das demografische Problem auch vor den Selbstständigen nicht halt.
AGEV: Danke für das Gespräch.
Über Bernd Raffelhüschen
Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen ist seit Oktober 1995 als Professor der Volkswirtschaftslehre, insbesondere der Finanzwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg tätig und leitet dort das „Forschungszentrum Generationenverträge“. Zudem war er bis 2019 an der Universität Bergen in Norwegen tätig. Neben seiner Mitwirkung an internationalen Forschungsprojekten beteiligt er sich – zum Beispiel als Mitglied der Rürup-Kommission, der Kommission Steuergesetzbuch oder als Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft – an Fragen der praktischen Sozialpolitik. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Sozial- und Steuerpolitik, insbesondere der Alterssicherung, Gesundheitsökonomie und Pflegevorsorge.
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