„Energy Sharing“: Mehr Teilhabe an der Energiewende gefordert
Das Interesse der Bürger ist groß, sich zu Energiegemeinschaften zusammenzuschließen, gemeinsam Ökostrom zu produzieren und finanziell davon zu profitieren. Doch obwohl die EU ihre Mitgliedsstaaten aufgefordert hat, bis Mitte 2021 das Modell der dezentralen Energieversorgung rechtlich zu verankern, ist in Deutschland noch nicht viel passiert.
Nicht jeder hat ein Eigenheim, ein geeignetes Dach und die finanziellen Mittel, eine Solaranlage zu installieren. Umso interessanter ist die Idee, dass sich regionale Stromverbraucher – ob Privathaushalte, Kommunen oder KMUs – zu Bürgerenergiegemeinschaften (BEG) zusammentun, um auf freien Flächen in ihrer Umgebung Photovoltaik- oder Windkraftanlagen zu errichten. Davon gibt es reichlich: Überall im Land bieten sich Scheunendächer, landwirtschaftlich nicht nutzbare Freiflächen oder öffentliche und private Dächer an, bestückt zu werden. Ihren lokal produzierten Ökostrom könnte die Nachbarschaft dann direkt und zu weitaus günstigeren Tarifen beziehen. Eine Entlastung des Geldbeutels wäre ein Vorteil, das gute Gefühl, die Energiewende aktiv mitzugestalten, ein anderer. Ziel ist es, eine möglichst große Schnittmenge zwischen regenerativer Erzeugung und regionalem Verbrauch zu erreichen. Berechnungen gehen davon aus, dass mit Energy Sharing bis zu 35 Prozent des von der Bundesregierung bis 2030 geplanten Ausbaus der erneuerbaren Energien erreicht werden könnten. 90 Prozent aller Haushalte in Deutschland könnten mit dezentral erzeugtem, kostengünstigem Strom versorgt werden.
Noch ist das in Deutschland allerdings Theorie. Das Problem: Es gibt hier zwar schon zahlreiche Bürgerenergiegemeinschaften (BEG), darunter mehr als 850 Energiegenossenschaften. Doch der gemeinsam erzeugte Strom kommt nicht bei den Mitgliedern an, weil ihnen nach derzeitiger Rechtslage das „Sharing“ nicht erlaubt ist. Es handelt sich also um reine Erzeugungsanlagen. Wären die regulatorischen Rahmenbedingungen für Energy Sharing geklärt, könnten die BEG-Mitglieder den Strom aus ihren Anlagen direkt und zu günstigeren Konditionen beziehen – Überschüsse würden vermarktet, weiterer Strombedarf zugekauft. „Wenn die Energiewende in den nächsten Jahren mit der gewünschten Beschleunigung umgesetzt werden soll, dürfen die Menschen nicht nur Beobachter der vielen neuen Wind- und Solarparks bleiben. Sie müssen den Ausbau der Erneuerbaren selbstbestimmt voranbringen und finanziell davon profitieren können“, sagt Malte Zieher, Vorstand vom Bündnis Bürgerenergie (BBEn).
Die smarte Technik, um Energy Sharing-Projekte auch in der Handhabung attraktiv zu machen, muss nicht erst erfunden werden. Auf sogenannten „Smart Readern“ können die Haushalte ablesen, wann die Energieausbeute hoch und es daher sinnvoll ist, die Waschmaschine einzuschalten.
Mehr Anreiz durch Prämien
Um das Stromteilen attraktiv zu machen, muss die Politik jedoch an ganz anderer Stelle ansetzen. Denn die dezentrale Energieerzeugung ist mit Mehrkosten verbunden – unter anderem für den Bau und die Instandhaltung der Anlagen, Investitionen in die IT, eine viertelstundengenaue Bilanzierung der Realverbräuche oder den teuren Zukauf von Strom aus dem Netz, wenn kein Wind weht und die Sonne nicht scheint. Um einen finanziellen Anreiz zu setzen, der die Menschen motiviert, sich einer Energy-Sharing-Gemeinschaft anzuschließen, bringen das BBEn und weitere Branchenakteure und Verbände ein gesetzliches Fördermodell in Spiel: Vorgeschlagen wird eine Prämie in Höhe von 2,8 bis 4,7 Cent pro direkt verbrauchter Kilowattstunde für Windenergieanlagen und von 4,9 bis 8,7 Cent/kWh für Solaranlagen (der Wert liegt höher, da PV-Anlagen weniger Volllaststunden erreichen als Windkraftanlagen). Die Datengrundlage für die Ausgestaltung einer solchen Prämie liefert eine Studie des Analyseinstituts Energy Brainpool.
Der Blick nach Europa
Andere europäische Länder setzen bereits auf ein Anreizsystem für Energy Sharing. Ein Vorzeigebeispiel ist Italien. Seit 2020 ist Energy Sharing in Italien rechtlich möglich, Ende 2021 überarbeitete die Regierung das Gesetz und setzte damit die Vorgaben der europäischen Erneuerbare-Energien-Richtlinie um. Seit diesem Frühjahr können auch größere Energiegemeinschaften Energy Sharing umsetzen. Die Stadt Magliano Alpi in der Region Piemont ist die erste Kommune des Landes, die eine solche Gemeinschaft gegründet hat. Vom Rathausdach und von anderen Dächern öffentlicher und privater Gebäude fließt nun der Strom zu den Mitgliedern. Digitale Steuerungsplattformen berechnen die optimalen Verteilungsvarianten und die Höhe der Prämie – elf Cent pro Kilowattstunde. Belohnt werden die Mitglieder, die den Strom zu den Zeiten nutzen, in denen er produziert wird. Wenn die Anlagen überschüssigen Strom ins öffentliche Netz einspeisen, gibt es die gesetzlich festgelegte Vergütung obendrauf. Die Resonanz der Bürger ist sehr positiv und die Wartelisten für die Teilnahme an der Energiegemeinschaft sind lang.
Politik ist zum Handeln aufgefordert
Die Bundesregierung sollte umgehend das Energy Sharing umsetzen und ähnlich wie Italien und Österreich die bestehenden Potenziale ausschöpfen, fordern die Branchenakteure und Verbände, die sich für Energy Sharing stark machen, in einem Positionspapier. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung steht zwar, dass die Rahmenbedingungen für Energy Sharing verbessert werden sollen, geschehen ist aber so gut wie nichts. Doch es kommt Bewegung in die Sache. Anfang Juli fand ein Dialog mit mehreren Bundestagsfraktionen zur Zukunft von Energy Sharing in Deutschland statt. Stefan Wenzel, Staatssekretär der Grünen im BMWK, (Grüne), kündigte an, das Modell im Herbst intensiv zu diskutieren – im Rahmen des Solarpakets II oder des Windpakets II, nachdem das Solarpaket I den Bundestag passiert habe.
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) setzte die Regierung zuletzt erneut unter Druck. Sie warf ihr im Oktober vor, mit der anhaltenden Nicht-Einführung des Energy Sharing die zentrale Maßnahme für eine bürgernahe Energiewende zu verschleppen. Nach wie vor sei unklar, wie das Anfang des Jahres in der Photovoltaik-Strategie groß angekündigte Solarpaket II ausgestaltet werde, in dem neben anderen Erleichterungen für Photovoltaik-Anlagen auch die längst überfällige Umsetzung des Energy Sharing vorgesehen ist. Die DUH fordert die Regierung auf, noch in diesem Jahr ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen und dafür zu sorgen, dass die Potenziale der dezentralen Energieerzeugung endlich voll ausgeschöpft werden.
Lesen Sie zum Thema auch unser Interview mit René Groß, Leiter Politik und Recht der Bundesgeschäftsstelle Energiegenossenschaften.
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