Editorial AGEV im Dialog September 2025
„Einfach mal machen“
Carsten Linnemann

Ab sofort bröckelt auch die vierte Säule des deutschen Sozialversicherungssystems, die Versicherung für die Arbeitslosen. Denn im Juli stieg deren Zahl zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder über drei Millionen. Für die Sanierung der anderen drei Säulen will die Regierung eine Kommission einsetzen, die Situation ist total verfahren. Die AGEV hat das seit 30 Jahren vorhergesehen und erfolglos immer wieder Vorschläge zur Stabilisierung eingereicht – wie gern hätten wir unrecht gehabt.
Das soll aber heute genauso wenig Thema sein wie das Versagen der EU im vorläufigen Zolldeal mit den USA, in dem Trump wie ein Schutzgelderpresser die Konditionen diktiert und selbst dieses unsinnige und unwürdige Diktat schon nach wenigen Wochen wieder infragestellt, sollte die EU auf die – sinnvolle – Idee kommen, ein paar Krümel der Gewinne der Techgiganten in Europa steuerlich aufzusammeln.
Auch dass das 1,5-Grad-Ziel der UN bereits im Jahr 2024 mit einem gemessenen Wert von 1,62 Grad über dem Beginn der Industrialisierung pulverisiert wurde und damit ad-acta gelegt werden kann und in unheilvoller Koinzidenz das Abkommen zur Reduzierung des Kunststoffmülls komplett gescheitert ist, lasse ich heute weg. Lamentieren bringt nichts, Hoffnungsschimmer am Horizont sind nicht erkennbar, Klima- und Artenschutz ist out, Enkeltauglichkeit uninteressant.
Aber: „Wir müssen vor die Welle kommen“, sagte mir neulich ein AGEV-Mitglied kämpferisch. Nach einer ganz aktuellen, repräsentativen Umfrage sind 59 Prozent der Deutschen für die Fortsetzung der Energiewende, bei der CDU sind es sogar erstaunliche 61 Prozent. Wir können die energetische und digitale Transformation unseres Landes zur Erfolgsgeschichte machen! Strom ist alles und alles wird Strom. Unser Verband ist mittendrin: Die Umstellung auf digitale Stromnetze fordert IT-Know-how, Datenschutz und -sicherheit.
Die „Energiewende mit Menschen“ könnte genau die positive Stimmung im Land schaffen, die die neue Regierung bis zum Herbst erreicht haben wollte. Stattdessen setzt die neue Wirtschaftsministerin auf den Bau von bis zu 40(!) neuen Gaskraftwerken, zementiert damit die Macht der Energiekonzerne, bereitet den Boden für zusätzliche Importe extrem schädlichen Fracking-Gases und verstopft die Leitungen für Alternativen. Denn wenn die neuen Kraftwerke einmal da sind, müssen sie auch möglichst lange laufen. So schafft man traurige Fakten. Bereits heute importiert Deutschland pro Jahr für 83 Mrd. Euro fossile Energie, zu bezahlen an Autokratien wie Saudi-Arabien und Katar und bei Weltzerstörern wie Trump.
Andere Länder haben einen großen Vorsprung beim Ausbau der Stromnetze, den Smart Metern zur zwingend notwendigen digitalen Steuerung eines flexiblen Netzes. Kombiniert mit dem schnelleren Anbau von Batteriespeichern und bidirektionalem E-Auto-Laden könnten wir eine preiswertere, resiliente und klimaneutrale Energieversorgung hinbekommen. Gleichzeitig schaffen wir zehntausende neue Arbeitsplätze und beteiligen die Menschen an ihrer Zukunft, anstatt die fossilen Dinos zu füttern, die rücksichtslos an ihren Geschäftsmodellen festhalten.
Wenn wir trotzdem aufgrund des steigenden Stromverbrauchs irgendwann zusätzliche Gaskraftwerke benötigen, reden wir nicht über 40, sondern schlimmstenfalls über zehn – und die werden vielleicht mit Wasserstoff betrieben werden.
„Einfach mal machen“, Carsten, aber genau das Gegenteil von dem, was Ihre Ministerin auf ihrem Weg in die fossile Vergangenheit gerade exerziert.
Lassen Sie uns stattdessen vor die Welle kommen, damit wir auf ihr reiten können und nicht weggespült werden, postuliert
Ihr
Franz J. Grömping
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