Aufbruch: Braucht Deutschland einen Befreiungsschlag?
Die Bundestagswahl 2025 steht vor der Tür. Die Forderungen aus der breiten Wirtschaft legen nahe, dass ein behutsames „Weiter so“ in Deutschland keine Option sein kann. Doch wie radikal müssen die Reformen sein? Ganz oben in fast allen Positionspapieren steht die dringend notwendige Abkehr von Überregulierung und Bürokratie.

Ein „mickriges“ Wirtschaftswachstum von 0,1 Prozent prognostiziert das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) für dieses Jahr. Die wirtschaftliche Lage Deutschlands nach zwei Jahren Rezession ist alarmierend. „Das ist schon lange keine konjunkturelle Verstimmung mehr, sondern eine schwerwiegende Strukturkrise“, sagt dazu IW-Konjunkturchef Michael Grömling. „Die kommende Bundesregierung darf keine Zeit verlieren, den Standort Deutschland wieder wettbewerbsfähig zu machen.“ Dazu gehörten eine Unternehmenssteuerreform, Anreize für eine Ausweitung des Arbeitsvolumens, Investitionen in Infrastruktur und Verteidigung sowie der ernsthafte Abbau von unnötiger Bürokratie.
Die Liste der Gründe, warum die deutsche Wirtschaft – im Gegensatz zu ihren europäischen Nachbarn – feststeckt, ist lang: eine hohe Steuer- und Abgabenlast, hohe Energiekosten, der Fachkräftemangel, die marode Infrastruktur, mangelnde Investitionsanreize, zähe Planungs- und Genehmigungsverfahren – und fast schon ein Dauerbrenner in allen Debatten: die ausufernde Bürokratie, die Unternehmertum und Gründertum bremst und ein innovationsfreundliches Klima verhindert. Erschwerend kommt hinzu, dass die Wirtschaftskrise in eine Zeit massiver geopolitischer Umbrüche und Verschiebungen der vertrauten Weltordnung fällt. Für die Exportnation Deutschland birgt das besondere Risiken. „Die politische Landschaft ist so turbulent wie selten zuvor. Nicht enden wollende Kriege und Konflikte, vier neue Jahre Trump, wachsender Protektionismus und geoökonomische Blockbildung und nicht zuletzt das Regierungsvakuum in Berlin: Auf unsichere Zeiten reagieren die Unternehmen mit Zurückhaltung“, ordnet Grömling die aktuelle Großwetterlage ein.
Um aus dieser Abwärtsspirale herauszukommen, fordern Wirtschaftsverbände von der künftigen Bundesregierung einen regelrechten Befreiungsschlag.
Abkehr von Überregulierung und Bürokratie
Das ifo Institut hat kurz vor der Bundestagswahl wirtschaftspolitische Reformvorschläge zur Diskussion gestellt und konstatiert, dass ein solcher „Befreiungsschlag“ entscheidend davon abhängt, wie stark der Reformwille der nächsten Regierung sein wird. Das Reformfeld Überregulierung und Bürokratie wird von der ifo-Volkswirtin Sarah Hecker als das drängendste Problem in Deutschland eingestuft. Obgleich seit Jahrzehnten Einigkeit darüber bestehe, dass die zunehmende Überregulierung und Bürokratie zu den zentralen Herausforderungen des Landes gehöre, sei es bisher keiner Regierung gelungen, den Trend umzukehren. Auch wenn alle Parteien in ihren Programmen für die Bundestagswahl 2025 planen, Bürokratie abzubauen, sei es unklar, was man sich von diesen Versprechen erhoffen kann. Die Leiterin des ifo Zentrums für Soziale Marktwirtschaft und Institutionenökonomik fordert, das Problem an der Wurzel zu packen. Notwendig ist aus ihrer Sicht mehr Vertrauen in marktwirtschaftliche Instrumente, die in der Regel mit weniger Bürokratie verbunden seien.
Die Arbeitsgemeinschaft Mittelstand, die rund 3,7 Millionen mittelständische Unternehmen repräsentiert, fordert von der nächsten Regierung als zentrale und prioritäre Handlungsfelder, den Bürokratieabbau konsequent und spürbar voranzutreiben, die Fachkräftebasis zu sichern, die analoge wie digitale Infrastruktur zu modernisieren sowie steuerliche und regulatorische Reformen vorzunehmen. Die wachsenden regulatorischen Anforderungen und immer umfangreicheren Dokumentationspflichten würden den betrieblichen Alltag massiv belasten und wertvolle Ressourcen binden, die für Innovation, Kundennähe und Transformation dringend benötigt würden. Der Befund: Die bisherigen politischen Reformansätze würden nicht ausreichen, um den notwendigen Wandel herbeizuführen. An Vorschlägen zum Bürokratieabbau, der auch die Berufsgruppe der Kleinstunternehmen und Selbstständigen in Deutschland massiv einschränkt, mangelt es seit Jahren nicht. Bereits im Frühjahr 2023 hatten Verbände 470 Streich-Vorschläge an die Regierung geschickt.
Ein überparteilicher Weckruf an die Politik kurz vor der Wahl fand am 29. Januar bundesweit statt: der „SOS-Wirtschaftswarntag“. Ein Aktionsbündnis aus über 100 Verbänden, zu denen auch die AGEV zählt, und zahlreichen Unternehmen hatte dazu aufgerufen. Der Initiative gehörten bewusst keine Parteien oder parteinahe Wirtschaftsverbände an, auf den Kundgebungen sollten keine Politiker sprechen. Kritik und Forderungen sollten sich an alle richten, die in der Politik Verantwortung tragen. „Die Bundestagswahl muss eine Wirtschaftswahl werden, wir brauchen eine Wirtschaftswende“, fordert das Aktionsbündnis und nennt zehn zentrale Handlungsfelder, die aus seiner Sichtig wichtig sind. Auch hier steht an erster Stelle „Ein umfassender, alle bisherigen Versuche weit übersteigender Bürokratieabbau.“
Re-Start Deutschland
Auch der Digitalverband Bitkom fordert in seinem Wahlpapier „Re-Start Deutschland!“ einen echten Neustart, ein „Weiter so“ sei keine Option. Zu den konkreten Vorschlägen zählt ein Stopp der Überregulierung: „Wir müssen Unternehmen – Startups ebenso wie Mittelständlern und Großkonzernen – mehr Raum für unternehmerische Kreativität, Innovation und Wachstum geben. Dazu gehört, die Übererfüllung von EU-Vorgaben zu beenden. Europäische Richtlinien sollten künftig 1:1 in nationales Recht umgesetzt werden. Kollidiert eine EU-Regelung mit bestehendem nationalem Recht, sollte die bestehende Regelung an EU-Recht angeglichen werden, nicht umgekehrt. Gleichzeitig müssen Berichtspflichten deutlich reduziert werden, mindestens um die von der EU-Kommission angestrebten 25 Prozent.“
Darüber hinaus fordert der Digitalverband in seinem Papier eine Reihe konkreter Maßnahmen zur Förderung der Digitalisierung, verbunden mit dem Appell: „Wir müssen den Anspruch haben, in der digitalen Wirtschaft weltweit ganz vorn mitzuspielen und in einigen Schlüsseltechnologien den Spitzenplatz zu erreichen, so z. B. in der digitalen Medizin, der smarten Mobilität und der IT-Sicherheit. Unsere Verwaltungen müssen durchgängig und ausschließlich digital arbeiten und ihre Dienste für Unternehmen und Privathaushalte durchgängig digital anbieten. Auf diesem Weg in die digitale Welt müssen wir alle Menschen mitnehmen.“
Den „großen Sprung“ wagen
Experten der renommierten Denkfabrik „Club of Rome" und des Wuppertal Instituts haben die Herausforderungen für Deutschland im Spannungsfeld von Wirtschaft, sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz analysiert. Ihr Ansatz ist, die aktuellen Krisen nicht isoliert, sondern als vernetzte Herausforderungen zu betrachten. Umfangreiche Daten und Modellierungen bilden die Grundlage für die Lösungsansätze der Experten, die sie in ihrem gemeinsamen Buch „Earth4All Deutschland“ vorstellen. Sie plädieren für mutige Reformen und einen radikalen Kurswechsel, um Wohlergehen, Gesundheit, Sicherheit und Demokratie für die Menschen in Deutschland zu erhalten.
Ausgewählte Kernaussagen:
- Ein schneller Wandel zum Positiven ist möglich: Die Analysen zeigen, dass sich die etablierten fossilen und ressourcenverbrauchenden Strukturen innerhalb der nächsten 25 Jahre in eine klimaneutrale und weitgehend auf Kreislaufwirtschaft fußende Gesellschaft überführen lassen.
- Verschiedene Bereiche gleichzeitig zu transformieren ist einfacher als jeden einzeln: Alle fünf Wenden beeinflussen sich gegenseitig. Es ist leichter, effektiver, kostengünstiger und erfolgversprechender, sie gemeinsam und zügig umzusetzen statt nacheinander. Dies erfordert Politikintegration statt isolierter Maßnahmen einzelner Ressorts sowie Zusammenarbeit statt Abschottung – nur so lassen sich Synergieeffekte heben.
- Eine ökologische Transformation ohne Abbau der sozialen Ungleichheit wird scheitern. Klimapolitik kann Sozialpolitik nicht ersetzen. Klimapolitik muss aber so ausgestaltet sein, dass sie die soziale Ungleichheit keinesfalls verschärft.
- Technik allein ist nicht die Lösung für alle Herausforderungen: Effizienz und erneuerbare Energien sind zentrale Strategien, deren Umsetzungsgeschwindigkeiten drastisch erhöht werden müssen.
- Die notwendigen Transformationsprozesse sind nur gemeinsam und mit Unterstützung aller umsetzbar. Unsere Demokratie muss dafür gestärkt werden. Eine Transformation mit vielen Verlierern gefährdet die Demokratie. Durch breite Partizipation, Zukunftsdialoge auf allen Ebenen, Bürgerräte und einer stärker demokratisierten Wirtschaft kann es gelingen, gesellschaftliche Gräben zu schließen.
- Mutige Zukunftsinvestitionen sind durchaus finanzierbar: Ein integrativer, ganzheitlicher Transformationsansatz erfordert erhebliche Zukunftsinvestitionen. Ein konsequenter Abbau klimaschädlicher Subventionen, ein progressiver Finanzierungsbeitrag der Reichen als auch Reformen der Staatsfinanzen wie die Anpassung der Schuldenbremse machen dafür Gelder frei, sind sozial gerecht und wenden zugleich exorbitante zukünftige Schadens- und Anpassungskosten ab.
Lesen Sie dazu auch das Interview „Wir brauchen mehr Mut bei politischen Entscheidungen“ mit Dr. Monika Dittrich vom Wuppertal Institut.
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