Bürgerräte – die neue Basisdemokratie?
In Deutschland wächst die Zahl der Bürgerbeteiligungen, allen voran auf kommunaler Ebene. Ist die Einbeziehung der Bürgerperspektive nur ein Feigenblatt der Politik, das den Bürgern direkte Beteiligung suggeriert? Oder kann das Format wirklich etwas bewegen? Eines können Bürgerräte auf jeden Fall: dem gefühlten Demokratieverlust und Politikfrust entgegenwirken.

Stell dir vor, du kannst direkt mitentscheiden, wie Politik gestaltet wird? Klingt gut. Dass die Sicht und die Ideen der Bürger abgefragt werden, geschieht in Deutschland immer häufiger. Doch wie sieht es eigentlich aus mit der Bürgerbeteiligung? Oft wird sie von der breiten Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, weil sie vor allem auf lokaler Ebene stattfindet.
Ein Format bundesweiter Bürgerbeteiligung, das für Aufmerksamkeit sorgte, ist das „Forum gegen Fakes“, das die Bertelsmann Stiftung im vergangenen Jahr initiierte, um einen guten Umgang mit Desinformationen anzustoßen. Die Idee: Mittel und Wege zu finden, die Menschen resilienter gegen Falschinformationen im Netz machen. Mehr als 420.000 Menschen beteiligten sich online an der Debatte, reichten Vorschläge ein und stimmten ab. Rund 3.300 Ideen kamen zusammen, aus denen ein repräsentativer Bürgerrat, der die Vielfalt der Gesellschaft abbildet, 15 Empfehlungen zum Umgang mit Desinformation erarbeitete und dem Innenministerium übergab. Ein Auszug aus den Vorschlägen: „Medienkompetenz“ als Pflichtfach an Schulen, verpflichtende Quellenangaben in Online-Artikeln, strengere Kontrollen von Social-Media-Plattformen oder eine zentrale Stelle zur Beobachtung ausländischer Bots, die versuchen, die deutsche Öffentlichkeit zu manipulieren. Der Bürgerrat betonte: Der Staat soll Desinformation effektiver bekämpfen, die Meinungsfreiheit aber nicht einschränken. Die Vorschläge liegen nun dem Bundesinnenministerium vor. Noch-Ministerin Nancy Faeser versprach bei der Übergabe im vergangenen September, die Vorschläge in die Strategie der Regierung zum Umgang mit Desinformation „einfließen“ zu lassen. Was die nächste Regierung daraus machen wird, bleibt abzuwarten.
Kritik und Zuspruch
Genau hier liegt die Krux der Bürgerbeteiligung, denn die Handlungsempfehlungen sind für die politischen Gremien nicht bindend. Kritiker bezweifeln den Nutzen und sprechen von einem „Alibi-Instrument“, weil Bürgerräte nur beraten und nicht entscheiden können. Es gibt aber auch kritische Stimmen in die andere Richtung, die grundsätzlich die Frage aufwerfen, wie viel direkten Einfluss Bürger in einer Demokratie überhaupt haben sollten. Die CDU-Bundestagsabgeordnete und Chefin der Wirtschafts- und Mittelstandsunion (MIT), Gitta Connemann, formulierte ihre Bedenken gegenüber der dpa so: „Bürgerräte führen nicht zu mehr Demokratie – im Gegenteil. Damit wird die Bedeutung von Parlamenten unterminiert.“
Damit Bürgerräte erfolgreich sind, braucht es aber vor allem den Willen der Politik, die Ergebnisse offen aufzunehmen, die Initiativen ernst zu nehmen und den Bürgern ein Feedback zu den Empfehlungen zu geben. Wie auch immer man es betrachtet: Das Einholen vielfältiger und frischer Sichtweisen aus der Bevölkerung ist eine Chance, dem gefühlten Demokratieverlust entgegenzuwirken. „Die Demokratie leidet, wenn sich immer weniger Menschen politisch engagieren und zugleich mehr Leute den Eindruck bekommen, sie hätten gar keine Möglichkeit, bei der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung mitzuwirken“, sagt Florian Harms, Chefredakteur des Nachrichtenportals t-online, das die Initiative gegen Desinformationen als Partner unterstützt hat.
Das Ohr an der Bevölkerung
Gemessen an der Menge der Bürgerräte wird es in Deutschland tatsächlich immer basisdemokratischer, ihre Zahl nimmt stetig zu. Sie beschäftigen sich zum Beispiel mit Fragen der Stadtentwicklung, der Infrastruktur, des Klimas, der Verkehrswende oder der Bildung. Das Land Nordrhein-Westfalen hat das Format – ebenso wie der Bund – im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Ein erfolgreiches Beispiel in NRW für die Einbindung der Bürgerperspektive ist der Nachhaltigkeitsrat in Jülich, dessen Empfehlungen etwa zu Mobilität, Umwelt und Stadtgestaltung in die politische und planerische Arbeit der Stadt Jülich einfließen sollen. Aber auch auf Bundesebene gibt es weitere Beteiligungen: Neben dem bereits erwähnten „Forum gegen Fakes“ beschäftigt sich der Bürgerrat „Bildung und Lernen“, dem bundesweit 120 Bürger angehören, damit, wie Kinder und Jugendliche in der Schule besser auf das Leben vorbereitet werden können, oder der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ mit der Verbesserung der Ernährungspolitik.
Per Losverfahren für faire Zusammensetzung
Das Format Bürgerrat sieht nicht vor, dass sich die Menschen freiwillig melden. Die Zusammensetzung erfolgt per Zufallsverfahren aus dem Melderegister, sodass Bürger nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Wohnort oder Bildungshintergrund ausgewogen vertreten sind. Die Sitzungen und Beratungen werden von einer neutralen Moderation begleitet, damit alle zu Wort kommen, und von Experten aus Wissenschaft und Praxis unterstützt. Ihre Ideen, Einschätzungen und Empfehlungen geben die Bürgerräte dann an die Politik weiter. Nach einem solchen Losverfahren konstituierte sich beispielsweise der Bürgerrat Stadtplanung in München: Nach dem Zufallsprinzip erhielten 10.000 Bürgerinnen und Bürger im Frühjahr 2024 einen Einladungsbrief, 800 davon meldeten sich zurück. 100 Plätze wurden schließlich verlost. In mehreren Sitzungen inklusive eines Stadtrundgangs wurden Ideen zur Stadtentwicklung gesammelt und 36 Empfehlungen an den Stadtrat übergeben. Im Laufe des Jahres sollen die Bürger eine Rückmeldung zu jeder eingereichten Empfehlung erhalten.
Bürgerräte kosten Geld
Einen Bürgerrat zu initiieren, kostet Geld, das den Kommunen leider oft fehlt, weiß Thorsten Sterk vom Verein Mehr Demokratie e. V., der sich für direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung einsetzt. Er empfiehlt Kommunen, die einen Bürgerrat begründen wollen, sich an eine Stiftung zu wenden, die sich für die Stärkung der Demokratie einsetzt. Davon gebe es in Deutschland einige, wie zum Beispiel die Hertie-Stiftung, die Stiftung Mercator oder zahlreiche Bürgerstiftungen.
Unser Tipp: Wenn Sie das Thema weiter interessiert: In einer Online-Veranstaltung des Netzwerks Bürgerräte – unter Mitwirkung des Philosophs und Politik-Theoretikers Ardalan Ibrahim – wird über die Frage diskutiert, wie Bürgerräte realpolitische Macht und Einfluss bekommen. Die Online-Veranstaltung findet am 7. Mai 2025 statt.
Mehr Informationen hier.
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