„Starre, ,One Size Fits All‘-Arbeitszeitmodelle passen nicht mehr in die Zeit“

Flexible Arbeitszeitmodelle sind ein zentrales Thema in der politischen Diskussion, denn wirtschaftliche, gesellschaftliche und technologische Entwicklungen erfordern neue Antworten. Für den Arbeitszeitexperten Guido Zander ist die Flexibilisierung der Arbeitszeit „alternativlos“. Im Interview erklärt er, warum starre Arbeitszeiten weder für ein Unternehmen noch für seine Mitarbeitenden gesund sind – und welchen Vorteil kleine Unternehmen auf dem Weg zu flexiblen Modellen haben.

Guido Zander (Fotograf: Udo Schlögl)

AGEV: Warum sind starre Arbeitszeitmodelle wie der klassische 9-to-5-Job nicht mehr zeitgemäß?

Guido Zander: Das Umfeld ist für alle Beteiligten – sowohl für Unternehmen als auch für Arbeitnehmer – komplexer und volatiler geworden. Ob es schwankende Auftragslagen, Engpässe in den Lieferketten oder sprunghaftere Kunden sind: Die Ausschläge nehmen zu, und darauf können Unternehmen nicht mit einer starren Arbeitszeit reagieren. Auch aufseiten der Beschäftigten verändern sich die Einflussfaktoren: So ist die Kinderbetreuung in Deutschland nach wie vor nicht gut gelöst, die Zahl der Pflegesituationen nimmt stetig zu – aber auch der Wunsch der Menschen, ihre Arbeitszeit zugunsten ihres Privatlebens in einem gewissen Rahmen gestalten zu können. Klar ist aber auch: Wenn von Arbeitszeitflexibilisierung die Rede ist, meinen Unternehmen und Beschäftigte etwas anderes.

AGEV: Über die Einführung der 4-Tage-Woche wird kontrovers diskutiert. Manche sehen sie als Allheilmittel, andere lehnen sie pauschal ab. Wie ist Ihre Sicht darauf?

Guido Zander: Es fängt ja schon damit an, dass es „die“ 4-Tage-Woche gar nicht gibt. Die meisten verstehen darunter eine Arbeitszeitreduktion auf vier Tage bei vollem Lohnausgleich. Es ist jedoch wichtig, die 4-Tage-Woche mit all ihren Vor- und Nachteilen realistisch und differenziert zu betrachten. Am häufigsten wird die Verteilung der Wochenarbeitszeit auf vier Tage umgesetzt. Aus meiner Sicht hat dieses Modell zunächst einmal nichts mit Arbeitszeitflexibilisierung zu tun. Ein Beispiel: Wenn ich eine 40-Stunden-Woche auf vier Tage verteile, bedeutet das zehn Stunden Arbeit pro Tag. Das ist erstens nicht 1:1 auf alle Branchen und Geschäftsmodelle übertragbar, und zweitens darf dann, um nicht gegen das Gesetz zu verstoßen, keine Minute mehr pro Tag gearbeitet werden. Für Handwerksbetriebe hat das Modell aber oft Sinn, weil zum Beispiel ihre Projekte vor Ort eine gewisse Kontinuität erfordern. Grundsätzlich ist es aber das unflexibelste Modell.

Wenn in der 4-Tage-Woche die Stunden reduziert werden, ist das wieder etwas anderes. Aber dann stellt sich die Frage: Wann ist der freie Tag? Die meisten würden sich wahrscheinlich den Freitag oder Montag für ein verlängertes Wochenende wünschen. Aber auch das ist mit vielen Geschäftsmodellen nicht vereinbar und erfordert einen hohen Organisationsaufwand. Studien aus Island und Großbritannien zeigen, dass die Unternehmen dort in der Realität bei 35 bzw. 36 Stunden, also 4,5 Tagen, gelandet sind, weil sich das 4-Tage-Modell als nicht praktikabel erwiesen hat. Mein Fazit: Die 4-Tage-Woche ist per se kein flexibles Modell, weil Branchen und Bedingungen nicht homogen sind. Sie kann gut sein – oder schlecht.

AGEV: Gibt es überhaupt Patentrezepte oder Standardmodelle?

Guido Zander: Nein. Letztlich stellt sich die Frage: Was ist Flexibilität eigentlich: Die Variation der täglichen Arbeitszeit? Die Variation der Wochenarbeitszeit? Oder die Frage, ob ein Mitarbeiter grundsätzlich selbst entscheiden kann, wie er seine Arbeit erledigt? Sie erfordert individuelle Planung und Kombination. In einem Schichtbetrieb zum Beispiel, der am Einsatztag nicht mehr flexibel ist, kann die Personaleinsatzplanung zu einem flexiblen Steuerungsinstrument werden. Wenn wir Kunden beraten, schauen wir uns immer die Ausgangssituation genau an, fragen, welche Flexibilität das Unternehmen braucht, wie kurzfristig sie sein muss und was das Geschäftsmodell zulässt, damit die Mitarbeiter selbst möglichst flexibel sein können und Einfluss auf ihre eigene Arbeitszeit haben. Die Lösungen sehen für jeden Kunden anders aus.

AGEV: Ist der Trend zur Flexibilisierung der Arbeitszeit nicht eine Gefahr für die Wirtschaft? Kritiker argumentieren, dass wir angesichts des Fachkräftemangels und der anstehenden Verrentungswelle der Babyboomer viel mehr arbeiten müssten, um die Probleme zu bewältigen.

Guido Zander: Aus meiner Sicht ist das eine populistisch geführte Diskussion, weil sowohl die Verfechter der Arbeitszeitverlängerung als auch die der Arbeitszeitverkürzung den Fehler machen, linear zu denken. Um es zu erklären: Es gibt viele Studien, die den Zusammenhang zeigen, dass bei einer Wochenarbeitszeit jenseits der 40-Stunden-Woche die Krankheitsfälle steigen. Das heißt: Was man durch zusätzliche Arbeitsstunden gewinnen würde, wird durch die Fehlzeiten aufgrund der Dauerbelastung wieder zunichte gemacht. Ein weiterer Effekt ist: Je höher die Wochenarbeitszeit, desto mehr Leerzeiten entstehen. Beide Effekte zusammen sind also unproduktiv. In umgekehrter Richtung, die von den Befürwortern der Arbeitszeitverkürzung propagiert wird, verhält es sich nicht anders. Der positive Effekt einer 35-Stunden-Woche – weniger Krankheits- und Ausfallzeiten – wird durch eine weitere Reduzierung auf 32 oder 30 Wochenstunden nicht größer. Tatsächlich liegt der positivste Effekt irgendwo zwischen 35 und 36 Stunden, weil diese Stundenzahl eine optimale Mischung aus maximaler Flexibilität, ausreichender Kapazität, geringer Krankheitsquote und wenig Leerzeiten ermöglicht.

AGEV: Klein- und Kleinstunternehmen fehlt es oft an freien Ressourcen und Mitteln, um sich intensiv mit neuen Arbeitszeitmodellen zu befassen. Was würden Sie ihnen raten, um die Transformation nicht zu verpassen und attraktiv für Talente zu bleiben?

Guido Zander: Ich glaube, gerade in Kleinstunternehmen ist es viel einfacher, was zu tun als in großen Unternehmen, wo ich Gremien und Mitbestimmungsstrukturen habe und Veränderungen nicht so einfach und schnell durchzusetzen sind. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: Ein Unternehmer, der wenige Mitarbeiter hat, kann sich mit ihnen zusammensetzen, sie einbeziehen, Gedanken und Ideen austauschen, mal eine Zeit lang experimentieren und einen Testlauf starten, ob weniger Wochenarbeitszeit oder eine flexiblere Gestaltung des Arbeitstages machbar ist. In kleinen Unternehmen kann man sich grundsätzlich besser ausprobieren und nachjustieren. Die Nebenbedingung muss natürlich immer sein, dass der Betrieb aufrechterhalten wird, dass der Output da ist und die Kundenbeziehung nicht leidet.

AGEV: Vielen Dank für das Gespräch.

Über Guido Zander:

Guido Zander ist seit fast 30 Jahren Arbeitszeitexperte und seit 2005 geschäftsführender Partner bei der SSZ Beratung für Arbeitszeit- und Personaleinsatzplanung in Feldkirchen bei München. Seine Expertise ist derzeit besonders im Zusammenhang mit der Diskussion um die Einführung der 4-Tage-Woche gefragt. In seinem aktuellen Buch „Wundermittel 4-Tage-Woche?“ stellt er praxistaugliche Alternativen zur 4-Tage-Woche vor, die deutlich flexibler sind und ähnlich positive Effekte haben. Anhand von Praxisbeispielen zeigt er, wie Arbeitszeitflexibilisierung in unterschiedlichen Branchen gestaltet und umgesetzt werden kann.