Arbeitszeiten – weg mit alten Denkmustern
Starre Arbeitszeitmodelle sind überholt. In Zeiten globaler Lieferketten, der Digitalisierung, KI, des Fachkräftemangels und demografischen Wandels ist Flexibilität gefragt. Doch welche Chancen und Herausforderungen bringt dieser Wandel der Arbeitswelt mit sich?
Um die Arbeitsorganisation von heute und morgen zu verstehen, lohnt sich ein kurzer Blick zurück: Vor der industriellen Revolution arbeiteten die meisten Menschen in der Landwirtschaft. Feste Arbeitszeiten gab es nicht. Man orientierte sich weniger an der Uhrzeit als an natürlichen Zyklen wie dem Tag-Nacht-Wechsel, dem Wetter, den Jahreszeiten. Erst mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert entstand ein völlig neues Zeitbewusstsein. Mit dem Aufkommen von Maschinen wurden die Arbeitszeiten standardisiert – Zeit wurde plötzlich zu Geld. Um die Effizienz in den Fabriken zu maximieren und die Produktionsabläufe zu optimieren, sollten die Maschinen möglichst ununterbrochen laufen. Eine 90-Stunden-Woche war für Fabrikarbeiter keine Seltenheit.
Der Acht-Stunden-Tag galt lange als „heilig“
Die zumeist unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Fabriken führten zu Aufständen. Im Jahr 1918 einigten sich Vertreter der Arbeiterbewegung und der Unternehmer in Deutschland erstmals auf die Einführung eines Achtstundentages, der heute – über 100 Jahre später – immer noch als Meilenstein im Kampf um faire Arbeitsbedingungen gefeiert wird. Vielen gilt er immer noch immer als „heilig“. Dabei zeigt sich: Das Beharren auf einer starren Zahl von Arbeitsstunden pro Tag ist kein besonders intelligentes Modell für die vielfältigen Anforderungen der heutigen Arbeitswelt.
Veränderungen in der Arbeitswelt
Denn die Art und Weise, wie wir arbeiten, hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Im Zuge der digitalen Transformation und der Verbreitung von Remote-Arbeit steht die traditionelle Arbeitswoche vor einem grundlegenden Wandel. Nicht nur in Deutschland, in vielen Ländern werden neue Arbeitszeitmodelle diskutiert. Digitalisierung und Globalisierung führen zu einer Entkopplung von Arbeitszeit und Arbeitsort, die flexible Arbeitszeitmodelle möglich und oft auch notwendig macht. Routinetätigkeiten werden immer stärker automatisiert. Viele Bürobeschäftigte haben das Office gegen Homeoffice getauscht. Flexible Arbeitszeiten sind nicht mehr die Ausnahme, sondern werden immer mehr zur Regel.
Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt, dass bereits 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland teilweise oder ganz von zu Hause arbeiten. Dies erfordert von den Unternehmen nicht nur eine Anpassung der technischen Infrastruktur, sondern auch ein Umdenken und eine Offenheit für neue Arbeitszeitmodelle. Starre Arbeitszeiten entsprechen in vielen Branchen – das produzierende Gewerbe vielleicht ausgenommen – nicht mehr der Lebenswirklichkeit der Beschäftigten, die sich eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben wünschen. Aber auch Unternehmen müssen unter den volatiler werdenden Rahmenbedingungen agiler werden, um produktiv zu bleiben. Wer jetzt an alten, starren Arbeitsmodellen festhält, verliert außerdem seine Anziehungskraft für gute Fachkräfte.
Die 4-Tage-Woche: Ein Konzept mit Tücken
Beim Thema Arbeitszeit prallen seit jeher die Meinungen aufeinander. Eines der prominentesten Modelle, das derzeit in der gesellschaftlichen Debatte diskutiert wird, ist die 4-Tage-Woche. Gewerkschaften wie die IG Metall fordern sie seit langem. Die Idee dahinter ist einfach: Eine Verkürzung der Arbeitswoche bei gleichbleibendem Lohn und Produktivitätsanforderungen. Ziel ist es, die Work-Life-Balance zu verbessern, die Produktivität zu steigern und gleichzeitig die psychische und physische Gesundheit der Beschäftigten zu fördern.
Erste Pilotprojekte mit der 4-Tage-Woche gibt es bereits. Unternehmen wie das IT-Systemhaus Dierck haben das Modell bereits umgesetzt und berichten von positiven Erfahrungen. Die Wochenarbeitszeit wurde von 38,5 auf 36 Stunden bei vollem Lohnausgleich reduziert. Die Belegschaft wurde in zwei Teams eingeteilt, die jeweils im Wechsel von Montag bis Donnerstag und von Dienstag bis Freitag arbeiten. Das Ergebnis: Die Mitarbeiter sind motivierter, die Produktivität ist gestiegen, und die zusätzliche Freizeit trägt zur besseren Erholung bei. Andere, wie das IT-Systemhaus Bitwing in der Oberpfalz, haben die 4-Tage-Woche auf Wunsch der Beschäftigten wieder abgeschafft, weil sie nicht funktionierte und die Produktivität sank. Einige Mitarbeiter hatten zum Beispiel ein Problem damit, dass sie an einem Tag frei hatten und der Rest der Familie nicht. So führte der freie Tag nicht zur Erholung, sondern zu mehr Stress.
Auch für den Berater und Arbeitszeitexperten Guido Zander ist die bloße Arbeitszeitverkürzung kein Modell, das flächendeckend eingeführt werden könnte. Viel wichtiger sei es, die Arbeitszeit weiter zu flexibilisieren. Eine 4-Tage-Woche wäre wieder ein starres Modell und hätte zu viele Nachteile. Beispielsweise sei die Umsetzung in Branchen, die eine tägliche Präsenz erfordern, sehr schwierig. Weitere Argumente gegen eine starre 4-Tage-Woche und was er den Unternehmen stattdessen empfiehlt, lesen Sie im Interview mit dem Arbeitszeitexperten Guido Zander in dieser Ausgabe.
Fachkräftemangel könnte sich weiter verschärfen
Ein besonders gewichtiger Kritikpunkt, der von vielen Unternehmen und Politikern gegen eine weitere Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich vorgebracht wird, ist der bereits spürbare Fachkräftemangel in Deutschland. Die Befürchtung: Eine flächendeckende Einführung der 4-Tage-Woche könnte das Problem weiter verschärfen. Schon heute fehlen in vielen Branchen – von der Pflege über das Handwerk bis zur IT – qualifizierte Fachkräfte. Eine Arbeitszeitverkürzung könnte das Arbeitskräfteangebot weiter verknappen und zu einer Überlastung der verbleibenden Beschäftigten führen.
Darüber hinaus argumentieren die Gegner des Modells mit der bevorstehenden „Verrentungswelle“ der geburtenstarken Jahrgänge, die in den kommenden Jahren in Rente gehen werden. Dies werde das Arbeitskräfteangebot weiter reduzieren, da Millionen von Menschen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden würden. In einer solchen Situation, so ihre Argumentation, sei es kontraproduktiv, die Wochenarbeitszeit weiter zu verkürzen. Stattdessen müsse darüber nachgedacht werden, wie mehr Menschen in den Arbeitsmarkt integriert und Fachkräfte länger im Beruf gehalten werden können – etwa durch flexible Lösungen, die es älteren Arbeitnehmern ermöglichen, ihre Arbeitszeit individuell anzupassen, ohne ganz aus dem Berufsleben auszuscheiden.
Alternativen zur 4-Tage-Woche
Dass die einseitige Forderung nach Arbeitszeitverkürzung auch nach hinten losgehen kann, zeigt ein prominentes Beispiel: der letzte Lokführerstreik. Die Gewerkschaft beharrte auf Arbeitszeitverkürzung, die Bahn argumentierte, es fehle schon jetzt an Lokführern. Doch die Lokführer ließen nicht locker. Jetzt entwickelt die Bahn zusammen mit Siemens Züge, die keinen Lokführer mehr brauchen. In Zeiten, in denen Arbeit zunehmend durch KI ersetzt werden kann, könnte ein Beharren auf Wunsch-Arbeitszeitmodellen für einige bedeuten, dass sie ihren Job ganz verlieren. Die Fokussierung auf die 4-Tage-Woche führt leider auch dazu, dass der Blick von interessanten Alternativen abgelenkt wird. Denn es gibt eine Reihe von flexiblen Modellen, die sich gut an die jeweiligen Bedürfnisse von Unternehmen und Beschäftigten anpassen lassen. Dazu gehören zum Beispiel:
- Gleitzeit/Arbeitskonten: Mitarbeiter können ihre Arbeitszeiten innerhalb eines bestimmten Rahmens flexibel gestalten.
- Vertrauensarbeitszeit: Arbeitnehmer haben die Freiheit, ihre Arbeitszeit selbst zu organisieren, solange die Arbeit erledigt wird.
- Jahresarbeitszeit: Die Arbeitszeit wird über das Jahr verteilt, was saisonale Schwankungen ausgleichen kann.
- Jobsharing: Zwei oder mehr Mitarbeiter teilen sich eine Vollzeitstelle.
- Klassische Teilzeit: Mitarbeiter arbeiten weniger als Vollzeit.
- Homeoffice bzw. Remote Work: Teilweises oder vollständiges Arbeiten von zu Hause oder einem anderen Ort aus.
Solche Modelle bieten den Unternehmen die Möglichkeit, auf die individuellen Bedürfnisse der Belegschaft einzugehen und gleichzeitig den betrieblichen Anforderungen gerecht zu werden. „Eine Patentlösung für alle gibt es nicht. Vielmehr bedarf es eines breiten gesellschaftlichen Dialogs und maßgeschneiderter Ansätze, die den Anforderungen unterschiedlicher Branchen und Berufe gerecht werden. Angesichts des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels ist es höchste Zeit, alte Denkmuster beiseitezulegen und mutige Schritte in eine flexible, moderne Arbeitswelt zu wagen“, so AGEV-Geschäftsführer Franz J. Grömping.
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