„Wir brauchen systemische Antworten“

Als Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) warnt Professor Dr. Friedrich Hubert Esser schon länger vor einer drohenden „Fachkräftekatastrophe“. Im Interview erläutert er, warum, stellt die aus seiner Sicht dringendsten Reformaufgaben vor – und was Deutschland tun muss, um für Fachkräfte aus dem Ausland attraktiver zu werden.

Professor Dr. Friedrich Hubert Esser (Bildquelle: Gelowicz)

AGEV: Sie warnen nicht zum ersten Mal vor einer „Fachkräftekatastrophe“. Welche Folgen drohen dem Wirtschaftsstandort Deutschland, wenn der Mangel an qualifizierten Kräften nicht gestoppt wird?

Esser: Um wirtschaftlich wieder wachsen zu können, benötigen wir mehr Investitionen – auch in Fachkräfte! Doch diese fehlen derzeit in fast allen Branchen. Nicht einhaltbare Lieferfristen, Ablehnung von Aufträgen, nicht umsetzbare Modernisierungen und Transformationen bis hin zur Schließung von Betrieben oder Abwanderung von Unternehmen ins Ausland sind die Folgen. Damit verlieren wir unseren technologischen Vorsprung, unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit und schleichend auch unseren Wohlstand.

AGEV: Ihre Forderung lautet, dass Transformation für die berufliche Bildung zu einer Mission werden muss. Was meinen Sie damit?

Esser: Die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft ist eine wirtschafts- und sozialpolitische Aufgabe mit höchster Priorität. Berufliche Bildung gehört hier zu den wesentlichen Gelingensbedingungen, denn ohne qualifizierte Fachkräfte werden die Transformationsziele – insbesondere, wenn sie beschleunigt erreicht werden sollen – nicht realisiert werden können. Als Mission wird das Thema Transformation in der beruflichen Bildung eine besondere Sichtbarkeit und Akzeptanz bekommen, was sich in einer Priorität sowohl bei den Forschungs- als auch den Entwicklungsarbeiten niederschlagen wird. Wir wollen mit Transformation als Mission Unterstützung in der Wissenschafts-Politik-Praxis-Community generieren, die notwendigen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft mit herbeiführen helfen und messbare Lösungen erreichen.

AGEV: Das BIBB hat Reformvorschläge vorgelegt. Welche Reformen sind aus Ihrer Sicht am dringlichsten?

Esser: Für mich haben drei Aufgaben eine besondere Dringlichkeit, damit berufliche Bildung in Deutschland wieder attraktiver und arbeitsmarktwirksamer wird.

  1. Um den durch den Akademisierungstrend der letzten Jahre verursachten Bedeutungsverlust von beruflicher Aus- und Weiterbildung aufzuhalten und mehr Reputation der beruflichen Bildung in der Gesellschaft zu bewirken, brauchen wir ein nachhaltiges und breitenwirksames politisches Signal für die Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung, das sich am besten durch eine rechtliche Regelung, zum Beispiel durch die Verrechtlichung des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) oder eine verfassungsrechtliche Regelung wie in der Schweiz, erreichen lässt.
  2. Wir müssen unser Berufsbildungssystem flexibler, inklusiver und exzellenter machen, damit wir die Menschen da abholen, wo sie mit ihren Lernvoraussetzungen stehen. Das Konzept, zum Einstieg gibt es nur die Berufsausbildung und für die, die das nicht schaffen oder können, die Maßnahmen der Arbeitsagentur, ist von gestern und hat mit der vielfältigen und sich immer schneller verändernden Arbeitswelt nichts mehr zu tun. Wir brauchen systemische Antworten, weil wir nicht nur die Schulabgänger und -abgängerinnen haben, die wir in möglichst großer Anzahl bei verschiedenen Leistungsstärken ausbilden wollen, sondern auch Geflüchtete, Migranten und Migrantinnen, Berufswechselnde, Studienabbrechende oder Langzeitarbeitslose, die ein attraktives Qualifizierungsangebot und damit Perspektiven brauchen. 2,6 Millionen Menschen unter 35 Jahre ohne Berufsabschluss und 600.000 sogenannte „Neets“, also „not in education, employment or training“, sind ein „No Go“ für den Wirtschaftsstandort und die Bildungsrepublik Deutschland.
  3. Wenn mehr individuelles und schrittweises Lernen ermöglicht werden soll, brauchen wir für den lebensbegleitenden Weg eines individuellen Berufslaufbahnkonzeptes mehr Möglichkeiten, individuelle Lernstände und -fortschritte feststellen und zertifizieren zu können. Wir müssen deshalb das formale Prüfungssystem durch ein Validierungssystem für Kompetenzfeststellungen als Schritte zwischen den formalen Abschlüssen ergänzen. Das Berufsprinzip darf dadurch nicht konterkariert, sondern muss unterstützt werden. Erfahrungen aus den Bereichen Anerkennung von im Ausland erworbenen Kompetenzen, aus Valikom oder aus den Maßnahmen rund um die Externenprüfung sind dafür zu nutzen. Wir müssen hier das Rad nicht neu erfinden.

AGEV: Der Trend zu einem akademischen Bildungsweg nimmt nicht ab, die duale Berufsausbildung wird dagegen für eine wachsende Zahl junger Menschen immer unattraktiver. Was muss passieren, um mehr junge Menschen für Lehrberufe zu gewinnen?

Esser: Die Studienanfängerquote ist zwar seit drei Jahren rückläufig. Wir sehen aber auch, dass die duale Berufsausbildung nicht davon profitieren konnte. In Zukunft wird es wichtiger werden, Jugendliche mit unterschiedlichen allgemeinschulischen Qualifikationsniveaus für eine duale Berufsausbildung zu gewinnen. Zudem wird eine qualifizierte Zuwanderung nötig sein, um den Fachkräftebedarf in Zukunft decken zu können. Eine entscheidende Stellschraube, um Jugendliche besser auf den Schritt von der Schule in eine Berufsausbildung vorzubereiten, ist eine fundierte Berufsorientierung an den allgemeinbildenden Schulen. Hierüber können bereits frühzeitig Hemmschwellen abgebaut und die Vielfältigkeit der Berufe des dualen Systems sowie Entwicklungs- und Karrieremöglichkeiten aufgezeigt werden.

Attraktivität und persönlicher Nutzen von dualen Berufen müssen besser bekannt gemacht werden. Junge Menschen der Generation Z sind auf der Suche nach sinnstiftenden Lebensentwürfen. Hier haben viele Ausbildungsberufe eine Menge zu bieten. Daran sollte in Kampagnen, in der Berufsorientierung und auch im Unterricht der allgemeinbildenden Schule angeknüpft werden.

AGEV: Wie bewerten Sie das im Sommer 2023 gebilligte Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung? Reicht das, damit qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland besser auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß fassen können.

Esser: Das Gesetz erleichtert die Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus Drittstaaten. Das begrüße ich sehr! Genau diese Menschen werden hier dringend gebraucht. Berufserfahrene können demnächst unter bestimmen Voraussetzungen einreisen, ohne ihre ausländische Qualifikation anerkennen zu lassen. In bestimmten Berufen, wie Heilberufen, ist die Anerkennung aber weiterhin erforderlich. Aber sie kann nach der Einreise erfolgen, im Rahmen einer „Anerkennungspartnerschaft“. Personen können also schneller im Betrieb anfangen und mit Unterstützung des Arbeitgebers das Anerkennungsverfahren durchlaufen.

Damit ausländische Fachkräfte richtig Fuß fassen, braucht es gesamtgesellschaftliche Anstrengungen – Stichwort Willkommenskultur. Deutschland konkurriert hier mit anderen attraktiven Zielländern. Ein anerkannter Berufsabschluss kann in Deutschland zur Integration in den Arbeitsmarkt beitragen: Fachkräfte erleben dies als echte Gleichstellung mit in Deutschland ausgebildeten Fachkräften und haben bessere Karrierechancen und berufliche Perspektiven.

AGEV: Was muss passieren, um die Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren weiter zu steigern?

Esser: Ein großes Hindernis für die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist die ungleiche Verteilung der Sorgearbeit. Denn die Hauptlast für Haushalt und Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen tragen nach wie vor Frauen. Wenn sie in diesem Bereich entlastet werden, durch eine gute Kinderbetreuung und durch eine gleichberechtigte Aufteilung der Aufgaben zu Hause, wirkt sich dies unmittelbar in einer höheren Erwerbsbeteiligung aus.

Ein Mehr an Gleichberechtigung bei der unbezahlten Sorgearbeit ließe sich durch eine gute institutionelle Kinderbetreuung und durch mehr Flexibilität in der Gestaltung der Arbeitszeit für Frauen und Männer fördern. Von so einer Flexibilisierung profitieren auch ältere Erwerbstätige. Man spricht hier von der „lebenszyklusorientierten Personalpolitik“. Das bedeutet, dass Arbeitgeber ganzheitlich auf alle Lebensphasen blicken, um die Potenziale ihrer Beschäftigten zu erschließen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu halten. Es geht hier also um mehr als nur flexible Arbeitszeiten.

Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser

 

Seit Mai 2011 ist Friedrich Hubert Esser (* 1959) Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) in Bonn. Der Experte für berufliche Bildung leitete zuvor seit 2004 die Abteilung „Berufliche Bildung“ beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) in Berlin. Sein Handwerk hat er „von der Pike“ auf gelernt. Nach einer Ausbildung im Bäckerhandwerk holte er über den zweiten Bildungsweg sein Abitur nach und studierte von 1983 bis 1989 in Braunschweig und Köln Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspädagogik. Zu seinen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkten gehören die Berufs- und Qualifikationsforschung, die europäische Berufsbildung, der Deutsche und Europäische Qualifikationsrahmen (DQR und EQR) sowie das Thema Entrepreneurship.