IT-Fachkräftemangel in Deutschland
Deutschland liegt in fast allen Zukunftsfeldern weit hinter den USA und China zurück. Ob KI, Big Data, Cyber Security, Cloud Computing, E-Commerce, Blockchain-Technologie, Robotik oder Biotechnologie: Deutsche Unternehmen spielen hier kaum noch eine Rolle. Ein wichtiger Grund dafür ist der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Über Ursachen und Lösungsansätze – auch für kleine Unternehmen.
Laut einer repräsentativen Umfrage des Digitalverbands Bitkom konnten im vergangenen Jahr 149.000 Stellen für IT-Fachkräfte nicht besetzt werden – ein trauriger Rekord. Betrachtet man den erweiterten Kreis der sogenannten MINT-Berufe, also Berufe, in denen vertiefte Kenntnisse in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik gefragt sind, sieht die Lage noch erschreckender aus. Laut MINT-Herbstreport des Instituts der deutschen Wirtschaft gab es im September letzten Jahres 476.400 offene Stellen im Sektor.
Bedarf wächst unaufhaltsam
Die Nachfrage nach IT-Fachkräften steigt aufgrund der verschleppten Digitalisierungs- und Transformationsaufgaben in Wirtschaft und Verwaltung kontinuierlich an. Der demografische Wandel verstärkt den Bedarf zusätzlich, da nicht genügend Nachwuchskräfte nachrücken. Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) prognostiziert, dass in Deutschland bis 2035 sieben Millionen Arbeitskräfte aus dem Erwerbsleben ausscheiden werden. Diesen Verlust zu ersetzen, erfordert große Anstrengungen, mit denen wir jetzt beginnen müssen. Zwar ist das Problem längst erkannt und es wird viel getan, um mehr Nachwuchs auszubilden. Leider reichen diese Anstrengungen bei weitem nicht aus. So hat sich zwar die Zahl der Informatikstudierenden in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Laut Statistischem Bundesamt verlassen aber von rund 30.000 Studienanfängern im Fach Informatik nur etwa 18.000 die Hochschulen mit einem Abschluss.
Problem beginnt in der Schule
Für Britta Matthes, Leiterin der Forschungsgruppe Berufe in der Transformation am IAB, beginnt das Problem schon in der Schule. IT-Kompetenzen würden nicht an allen Schulen und in allen Berufen vermittelt, beklagt sie gegenüber dem IT-Fachdienst Heise-Online. Noch hätten nicht alle Bundesländer Informatik als Schulfach eingeführt und dort, wo es im Stundenplan steht, fehlten die Fachlehrer. Ähnliches gelte für die Berufsausbildung: „IT-Wissen sollte in jeder Ausbildung vermittelt werden, weil es heutzutage kaum einen Beruf mehr gibt, der ohne IT funktioniert“, so die Bildungsexpertin. IT sei eine Querschnittskompetenz, die jede und jeder beherrschen sollte.
Schlechte Leistungen trotz guter Noten
Auch ein Blick auf die Leistungsbewertung ist interessant: In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Abiturienten mit der Bestnote 1,0 verfünffacht. Zudem hat sich die durchschnittliche Abiturnote seit 2006 von 2,53 auf 2,28 im Jahr 2022 verbessert. Für den Bildungsexperten Nico Colsman, Chef des gemeinnützigen Vereins „Zukunft Digitale Bildung“, ist das keine gute Nachricht. Je besser der Notendurchschnitt werde, desto weniger sei das Abitur wert, so Colsman. Die ernüchternden Pisa-Ergebnisse deutscher Schüler geben ihm recht. Seit 2010 befinden sich die Leistungen deutscher Schüler mehr oder weniger im Sinkflug. Beim Eintritt in die Universitäten zeigen sich dann die Defizite der Schulabgänger. So kritisiert der streitbare Paderborner Mathematikprofessor Bernhard Krötz, dass kaum ein deutscher Schulabgänger die zentrale indische Hochschulaufnahmeprüfung in den Naturwissenschaften bestehen würde. Die meisten Abiturienten seien „mathematische Analphabeten“. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die Corona-Jahre, die massive Zuwanderung von Menschen ohne Deutschkenntnisse, die exzessive Nutzung von Fernsehen, Spielkonsolen und Smartphones schon im Vorschulalter, Kinderarmut etc.
Weitere Ursachen
Neben der Bildungsmisere gibt es weitere Ursachen für den sich verschärfenden Fachkräftemangel in Deutschland. So wird hierzulande zu wenig dafür getan, dass Fächer wie Mathematik oder Informatik ein besseres Image bekommen. Im Ergebnis entscheiden sich immer noch viel zu wenige junge Menschen für eine entsprechende Ausbildung. Hinzu kommt der globale Wettbewerb. Immer mehr der ohnehin knappen Fachkräfte wandern ins Ausland ab, weil sie dort attraktivere Lebens- und Arbeitsbedingungen vorfinden. Im direkten Wettbewerb mit anderen Ländern verliert Deutschland daher immer häufiger den Kampf um hochqualifizierte Talente.
Der Fachkräftemangel trifft kleine Unternehmen besonders hart, vor allem außerhalb der großen Städte. Große Unternehmen haben ihren Sitz häufig in beliebten Metropolen und können attraktive Konditionen bieten. Kleinen Unternehmen hingegen fehlen meist die finanziellen Mittel, um mit den Gehältern großer Konzerne zu konkurrieren. Auch beim Recruiting haben die Konzerne die Nase vorn. Sie beschäftigen ganze Personal- und Personalmarketingabteilungen sowie externe Personalvermittler, um ihren Personalbedarf zu decken. Damit schnappen sie den kleinen Unternehmen die besten Absolventen und oft auch selbst ausgebildete Mitarbeiter weg. Alle Maßnahmen, die heute beschlossen werden, ändern nichts mehr daran, dass die Lage aktuell so ist, wie sie ist. Im Folgenden blicken wir deshalb darauf, was kleine Unternehmen jetzt tun können, um mehr qualifizierte Fachkräfte zu halten und gewinnen.
Damit können kleine Unternehmen punkten:
- Attraktive Arbeitsbedingungen: Unabhängig von den Gehältern können sie mit flexiblen Arbeitszeiten, Homeoffice-Optionen, Fortbildungsmöglichkeiten und einem sinnstiftenden Nachhaltigkeitskonzept punkten.
- Regionale Netzwerke: Kleine Unternehmen können verstärkt lokale Netzwerke, Hochschulen und Forschungseinrichtungen nutzen, um direkt mit potenziellen Talenten in Kontakt zu treten.
- Rekrutierung im Ausland: Die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit sowie die Industrie- und Handelskammern unterstützen bei der Suche nach Fachkräften im Ausland. Darüber hinaus gibt es globale Personalvermittlungen und internationale Jobportale sowie Netzwerke wie LinkedIn.
- Vielfalt fördern: Um den Pool an verfügbaren Talenten zu erweitern, können kleine Unternehmen beispielsweise verstärkt Frauen für IT-Positionen gewinnen. Dies kann zum Beispiel durch gezielte Recruiting-Maßnahmen und die Schaffung eines familienfreundlichen Arbeitsumfelds erreicht werden.
- Aus- und Weiterbildung: Durch gezielte Weiterbildungsprogramme und klare Karrierepfade können kleine Unternehmen ihre bestehenden Mitarbeiter fördern und so einen größeren Anteil ihres Fachkräftebedarfs aus den eigenen Reihen decken.
- IT-gesteuerte Analyse: Mit Hilfe neuer KI-Tools lassen sich Social-Media-Profile und Jobbörsen effizient analysieren und mit den eigenen Anforderungen abgleichen, um gezielter Bewerber anzusprechen.
- Recruiting-Prozess verbessern: Viele kleinere Unternehmen haben die Digitalisierung des gesamten Bewerbungs- und Auswahlprozesses noch nicht vollständig umgesetzt – etwa durch den Aufbau von Karriere-Websites und Social-Media-Kanälen. Dabei wird dies gerade von High Potentials heute erwartet und spart zudem Kosten und Zeit durch mehr Effizienz.
- Ältere Arbeitnehmer einbinden: Aufgrund des demografischen Wandels werden Unternehmen in Zukunft auch mehr ältere Arbeitnehmer im Erwerbsleben halten müssen. Speziell für sie müssen entsprechende Angebote geschaffen werden, zum Beispiel die Option Teilzeitarbeit.
- KI und Outsourcing: KI-Technologien können in Zukunft die vorhandenen IT-Mitarbeiter entlasten. Auch Automatisierung und der verstärkte Einsatz von Freelancern sind Mittel, um den Bedarf an eigenen Fachkräften zu senken.
Was muss die Politik tun?
Bundeswirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck hat angekündigt, dem Fachkräftemangel in Deutschland besser begegnen zu wollen. Dazu will er unter anderem einen möglichen Rechtsanspruch auf flexibles Arbeiten – zum Beispiel von zu Hause aus – prüfen. Außerdem will Habeck mehr Anreize für ältere Menschen schaffen, auch nach dem Renteneintritt zu arbeiten. Damit will er dem Trend zur Frühverrentung entgegenwirken. „Das Wissen und Können älterer Arbeitnehmer ist Gold wert – für die Betriebe, für die Wirtschaft“, sagt der Grünen-Politiker. Er schlägt deshalb vor, den Arbeitgeberanteil zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung nach Erreichen der Regelaltersgrenze direkt an die Beschäftigten auszuzahlen. AGEV-Geschäftsführer Franz J. Grömping, begrüßt diesen Vorschlag: „Das wäre in der Tat ein wichtiger Schritt, um Arbeit für viele Ältere attraktiver zu machen. Allerdings vergisst der Wirtschaftsminister dabei die besondere Situation von Selbstständigen und Freiberuflern. Diese müssen den Arbeitgeberanteil zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung selbst finanzieren, wenn sie sich nicht anstellen lassen wollen. Dies muss gerade im Hinblick auf die geplante Rentenversicherungspflicht für Selbstständige unbedingt berücksichtigt werden.“
Neues Fachkräfteeinwanderungsgesetz
Auch die im vergangenen Jahr beschlossene Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes geht laut Grömping in die richtige Richtung. Es schaffe neue Möglichkeiten, nach Deutschland einzureisen, um hier zu arbeiten oder eine Ausbildung zu machen. Das neu eingeführte Punktesystem erleichtere zudem die Arbeitssuche. Zu den Auswahlkriterien gehören Qualifikation, Deutsch- und Englischkenntnisse, Berufserfahrung, Bezug zu Deutschland, Alter und Potenzial des mitziehenden Ehe- oder Lebenspartners. Hilfreich sei auch, dass bereits während der Arbeitssuche eine Beschäftigung von bis zu zwanzig Wochenstunden erlaubt sei. Ob dies allerdings ausreiche, um Hochqualifizierte nach Deutschland zu locken, müsse die Praxis zeigen. Ein Schwachpunkt sei, dass die Aufenthaltserlaubnis zunächst auf ein Jahr befristet sei und nicht wie in Kanada unbefristet gelte, so der AGEV-Geschäftsführer.
Arbeit muss sich lohnen
Angesichts eines europaweiten Frauenanteils von nur 22 Prozent in der Technologiebranche fordern Experten seit langem, mehr Arbeitsanreize für Frauen zu schaffen. Eine Verdoppelung des Frauenanteils würde den IT-Fachkräftemangel über Nacht beseitigen. Doch so einfach ist es nicht. In zu vielen Städten und Gemeinden herrscht zum Beispiel noch immer Notstand bei der Kinderbetreuung. Zwar hat sich vieles verbessert, aber in der Praxis fehlt es oft an gezielten Förderprogrammen, einer gerechteren Besteuerung des Partnereinkommens, flexiblen Arbeitszeitmodellen und einer familienfreundlichen Unternehmenskultur. Insbesondere Politiker aus den Reihen von CDU/CSU und FDP kritisieren zudem die ständige Erhöhung staatlicher Sozialleistungen wie Bürgergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag. Arbeitsverweigerung müsse stärker sanktioniert werden, fordern viele. Sonst würde sich Arbeit im Vergleich zum Nichtstun immer weniger lohnen.
Angesichts des rasanten technologischen Wandels sei es zudem wichtig, lebenslanges Lernen zu fördern, so Grömping. Die Politik müsse Anreize schaffen, damit sich Arbeitnehmer regelmäßig weiterbilden und ihre Qualifikationen auf dem neusten Stand halten. „Vor allem müssen wir in Deutschland viel mehr in die Förderung der MINT-Fächer investieren. Zum Beispiel durch finanzielle Anreize für Studierende und enge Kooperationen zwischen Unternehmen und Bildungseinrichtungen. Hindernisse sehe ich im föderalen Flickenteppich der deutschen Bildungspolitik sowie in ideologischen Barrieren wie der Verteufelung der Begabtenförderung oder dem mangelnden Interesse an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Selbstständigen und Freiberuflern“, so Grömping.
Fazit
Insgesamt erfordert die Bewältigung des IT-Fachkräftemangels in Deutschland eine umfassende und koordinierte Anstrengung von Bildungseinrichtungen, Unternehmen und Politik. Insbesondere müssen die Rahmenbedingungen für Frauen, Ältere, Nichtdeutsche und Freelancer verbessert werden. Auf den Prüfstand gehören aber auch Themen wie die im internationalen Vergleich exorbitante Steuer- und Abgabenlast in Deutschland sowie die sich verschärfende Wohnungsknappheit. Auch ein zunehmend ausländerfeindliches Klima, das sich in den Umfrage- und Wahlerfolgen der AfD widerspiegelt, macht Deutschland für hochqualifizierte Fachkräfte aus dem In- und Ausland selbst bei hohen Gehältern nicht attraktiver.
Lesen Sie hierzu auch den Ratgeber-Artikel mit wichtigen Fragen vom Verlag für Rechtsjournalismus.
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