Pro & Contra:Gibt es ein Grundrecht auf ein analoges Leben?Eine Frage, zwei Standpunkte

Pro:
Christoph Steinhauer, Redaktion „AGEV im Dialog“

Viele Menschen in Deutschland haben kein Smartphone und wollen auch keines. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Manche fühlen sich zu alt, um den Umgang mit der Technik zu erlernen, andere befürchten gesundheitliche Schäden durch Handystrahlung, wieder andere wollen keine Daten von sich preisgeben oder nicht so viel Strom verbrauchen. Darf man diese Menschen vom öffentlichen Leben ausschließen, indem man alle analogen Wege abschaltet?

Wer sich digitalen Anwendungen nicht öffnet, wird heute zunehmend ausgegrenzt und von wichtigen Dienstleistungen ausgeschlossen. Beispiel Bahncard: Im Sommer wird die Plastikkarte abgeschafft. Künftig gibt es nur noch die digitale Bahncard – ohne App funktioniert sie nicht. Auch die neuen Packstationen der Post sind ohne App nicht mehr nutzbar. Noch weiter geht der Mobilfunkanbieter Congstar. Das Unternehmen bietet nicht nur keine analogen Kommunikationswege an, sondern schaltet auch sein Kundenportal für Desktop-Computer ab. Damit sind die Kundinnen und Kunden gezwungen, die App zu nutzen, wenn sie beispielsweise ihre Rechnung einsehen wollen. Ohne Smartphone geht also auch bei Congstar gar nichts mehr.

Es geht um Kosteneinsparung

Congstar ist nicht allein. Immer mehr Unternehmen und Institutionen gehen diesen Weg, ohne Rücksicht darauf, dass manche Kunden damit überfordert werden oder dies gar nicht wollen. Ich fürchte, der Hauptgrund für diese Veränderungen ist nicht ein besserer Kundenservice, sondern lediglich Kosteneinsparungen und Datensammlung. Nachdem die meisten Unternehmen in der Vergangenheit bereits enorme Portokosten eingespart haben, indem sie keine Briefe mehr verschicken, will man nun auch noch die Kosten für den Betrieb von Webportalen einsparen. Meiner Meinung nach geht das aber auch zu Lasten der Kunden, die immer mehr Aufgaben übernehmen müssen, die früher von den Unternehmen erledigt wurden – beispielsweise das Ausdrucken bestimmter Dokumente wie Verträge, Rechnungen oder Bescheinigungen, die von Behörden teilweise noch in Papierform verlangt werden.

Technologieabhängigkeit wird immer größter

Ein weiteres Argument gegen den Digitalzwang ist die Tatsache, dass wir immer abhängiger und weniger resilient werden. Was ist, wenn die Apps aus irgendeinem Grund nicht mehr funktionieren, gehackt werden, das Internet oder der Strom ausfallen? Auch geopolitisch gesehen ist es keine gute Idee, sich immer abhängiger von bestimmten Technologien und Rohstoffen wie Seltenen Erden zu machen, die zur Herstellung von Smartphones benötigt werden. Schon heute steckt jede Menge Technologie in den Geräten, die aus China stammt, und auf die wir im Konfliktfall wenig Einfluss haben. Sollte im Worst Case die gesamte Grundversorgung in Deutschland nicht mehr funktionieren, weil alles nur noch mit dem Smartphone erledigt werden kann – dann gute Nacht.

Der Feind hört mit

Zweifellos haben wir als Bürger bestimmte Pflichten, wie die Anmeldung an einem Wohnsitz und die postalische Erreichbarkeit. Aber das Grundgesetz schützt auch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Unversehrtheit von Körper und Wohnung. Nicht umsonst müssen Mitarbeiter in vielen Unternehmen bei wichtigen Besprechungen ihr Smartphone abgeben, weil immer die Gefahr besteht, über das Gerät ausspioniert zu werden. Das ist der Grund, weshalb ich zum Beispiel kein Onlinebanking auf meinem Handy mache. Wenn wir alle nur noch digitales Geld in digitalen Börsen benutzen dürften, wäre das meiner Meinung nach extrem gefährlich. Auch wenn es so weit zum Glück noch nicht gekommen ist, sind wir auf dem besten Weg dahin. Denn heute schon werden wir durch die ständige Nutzung digitaler Dienste immer transparenter, berechenbarer, beeinflussbarer und angreifbarer. Ein Paradies für Cybergangster oder einen digitalen Überwachungsstaat wie China. Das kann aber hierzulande niemand ernsthaft wollen.

Verlust der Wahlfreiheit

So sehr die Digitalisierung unser Leben erleichtert und bequemer macht, so sehr bedeutet sie auch einen Verlust an Freiheit. Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang wir digitale Technologien nutzen wollen, wird uns zunehmend abgenommen. Wer nicht mitmacht, bleibt außen vor – was einer modernen Form der Ausgrenzung gleichkommt. Ein Zwang zum digitalen Leben ist deshalb für mich bereits ein Eingriff in wesentliche Grundrechte. Deshalb unterstütze ich auch die Petition, die der Verein Digitalcourage kürzlich nach Berlin geschickt hat. Darin wird der Bundestag aufgefordert, „das Recht auf ein Leben ohne digitalen Zwang explizit ins Grundgesetz aufzunehmen und damit gesetzlich zu verankern“. Ein Recht auf ein analoges Leben muss in einem gewissen Maße auch in Zukunft möglich sein.

 

Contra:
Franz J. Grömping, AGEV-Geschäftsführer

Auf einer politischen Veranstaltung erzählte neulich ein hochrangiger Politiker, dass er händisch seitenlange Formulare für den Kitaantrag ausfüllen sollte, total genervt war und nach einem Ausweg suchte. Als er eine vermeintliche Lösung in Form einer Mailadresse fand und diese zur Kontaktaufnahme nutzte, wurde ihm nach drei Tagen das gleiche Formular, nur schief eingescannt, nochmals per Post zugesandt.

An jeder Ecke, bei fast jedem Behördenkontakt trifft man auf veraltete, redundante Prozesse. Überall muss man Daten angeben, die andere öffentliche Stellen längst erfasst haben, aber aufgrund mangelnder Technik oder Anforderungen des überbordenden Datenschutzes natürlich nicht weitergeben. Auch der o. g. Politiker sollte Auszüge seiner letzten drei Jahreseinkommensbescheinigungen beifügen, obwohl mindestens das Finanzamt über alle Unterlagen transparent verfügt.

Es ist zum deutschen Volkssport geworden, die schleppende Digitalisierung zu kritisieren. Als Musterbeispiel für die digitale Gesellschaft dient dann immer Estland. Unternehmen und Verwaltungsfachleute lassen sich dort die Möglichkeiten erklären, die Gesellschaft digital aufzustellen. Überall gibt es daher zarte Pflänzchen, einzelne digitale Inseln zu bauen.

Doch meint man es damit ernst, fehlt es an Bereitschaft der Beteiligten, Know-how, Fachkräften, Geld und wohl auch einer Strategie. Und in einem Land, das einem Sketch zufolge bereits bei der Erfindung des Feuers Sorge hatte, dass man ja dann auch Brandschutztüren und Feuerleitern erfinden müsse, gibt es natürlich Bedenkenträger, die die Digitalisierung grundsätzlich infrage stellen.

Für Aufregung sorgte zuletzt die Bahn, die die physische Bahncard abschafft und damit den Weg zu einem etwas dünneren Portemonnaie und die Einsparung von zig Tonnen Plastik freimacht. Wie auch mit der Petition für ein Grundrecht auf ein analoges Leben wollen Menschen Stolpersteine in den Alltag einbauen, die uns im Vergleich mit anderen Ländern weiter zurückfallen lassen.

Ihr Hauptargument ist, dass ältere Menschen digitale Technologien nicht nutzen können. Die tägliche Erfahrung lehrt anderes: Mit einfachen Strukturen und benutzerfreundlicher Bedienung können auch Senioren problemlos in die digitale Welt integriert werden. Man darf sich nur nicht die Fahrkartenautomaten der Bahn als Vorbild für die Nutzung nehmen. Digitalisierung heißt ja gerade nicht, die Menschen mit der neuen Technik allein zu lassen, sondern sie verpflichtet die Anbieter zu Schulungen, Einführungen und Anlaufstellen für praktische Hilfe.

Die zweite große Baustelle ist vor allem in Deutschland die Angst vor Datenschutzverletzungen. Sie ist paranoid ausgeprägt, bedenkt man, dass viele überhaupt kein Problem damit haben, ihren Datenschatz Kraken wir Tiktok, Amazon oder Meta in die Fänge zu geben. Moderne Sicherheitstechnologien und strenge Datenschutzrichtlinien können im Gegenteil den Schutz persönlicher Daten gewährleisten. Unternehmen, die hier nicht transparent und sicher arbeiten, haben in der digitalen Wirtschaft keinen Platz. Nutzer müssen lernen, zwischen vertrauenswürdigen und unseriösen Anbietern zu unterscheiden.

Der Rückzug ins Analoge ist keine Lösung

Natürlich müssen hybride Modelle gefördert werden, die Menschen schrittweise an digitale Technologien heranführen. Übergangsfristen, die früh kommuniziert werden, erleichtern den Umstieg psychologisch. Dann haben Menschen Zeit, sich mit der Technik vertraut zu machen oder ein Netz von hilfreichen Mitmenschen aufzubauen. Digitalisierung kann also auch Bildung und gesellschaftlich Teilhabe fördern sowie soziale Bindungen stärken. Der Widerstand gegen Digitalisierung resultiert oft aus Unwissenheit, die durch gezielte Aufklärung beseitigt werden kann.

Das wohl wichtigste Argument gegen die Beibehaltung analoger Lösungen sind die gesellschaftlichen Kosten verbleibender analoger Lösungen. Dieses Geld fehlt für andere Aufgaben. In der Zwischenzeit entwickeln – ganz zu schweigen von asiatischen – EU-Länder wie Estland ihre Technologie weiter und unser Rückstand vergrößert sich. Dabei stecken Deutschlands Rohstoffe nur zwischen den Ohren und nicht im Boden. Apropos Rohstoffe: Digitalisierung ist vermutlich das wichtigste Instrument, um Umweltzerstörung und Klimakatastrophe zu begegnen. Jede parallele analoge Entwicklung verlangsamt die Fortschritte auf diesem Weg.

Fazit

Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, analog zu leben, die wir nutzen sollten. Briefe schreiben, Fahrrad fahren, miteinander reden, Sport treiben, Schach spielen und lesen. Der Grundsatz für ein sinnhaftes Leben ist vielleicht sogar: so wenig digital wie möglich. Aber da, wo es gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch unerlässlich ist, müssen wir unser Leben besonnen, angstfrei und konstruktiv digitalisieren.

Die Forderung nach einem Recht auf ein analoges Leben ist rückwärtsgewandt und ignoriert die zahlreichen Vorteile der Digitalisierung. Stattdessen sollte der Fokus auf der Förderung digitaler Kompetenzen, der Verbesserung der Datensicherheit und der Integration hybrider Lösungen liegen. Nur so können wir die Chancen der digitalen Zukunft voll ausschöpfen und sicherstellen, dass niemand zurückgelassen wird.