Niemals geht man so ganz
Der AGEV-Ehrenvorsitzende Leonhard Müller feierte jüngst seinen 80. Geburtstag, zu dem wir herzlich gratulieren. Ein gegebener Anlass, ihn zu fragen, wie sein Alltag ohne die AGEV heute aussieht. Wie nicht anders zu erwarten, sprachen wir auch über die aktuelle politische und wirtschaftliche Situation in Deutschland und der Welt, die Leonhard Müller wie immer glasklar und mit großem Fachwissen analysiert. Auf seine Sicht auf die drängendsten Probleme und welche klugen Ratschläge er für Politik hat, dürfen Sie gespannt sein:
AGEV: Als langjähriger Geschäftsführer und Vorsitzender des Vorstands haben Sie die AGEV wie kein anderer bis zum August 2021 geprägt. Haben Sie Ihre Entscheidung, Ihr Amt bei der AGEV niederzulegen, schon mal bereut?
Leonhard Müller: Die Entscheidung habe ich nicht bereut, da die Weichen durch den langjährigen Aufbau des Verbandes ja gestellt wurden. Der neue Vorstand und die Geschäftsführung führen die AGEV erfreulicherweise sehr erfolgreich weiter.
AGEV: Gibt es etwas, das Sie aus Ihrer AGEV-Zeit vermissen?
Leonhard Müller: Man geht nie so ganz. Da ich immer noch Kontakt zur AGEV habe, bleibt die Verbindung bestehen. So kann ich nach wie vor meine Erfahrungen, die ich durch langjährige berufliche Erlebnisse und Laufbahnen gewonnen habe, einbringen.
AGEV: Wie können wir uns Ihren heutigen Alltag vorstellen? Haben Sie mehr Zeit für Hobbys und Familie?
Leonhard Müller: Auch wenn mein Alltag durchaus ausgefüllt ist, habe ich endlich etwas mehr Zeit. Vielleicht aber immer noch etwas zu wenig für meine Großfamilie, denn die Politik auf kommunaler Ebene, Stadt und Landkreis Rhein-Sieg fordern aktuell sogar noch etwas mehr Zeit. Denn ich bin ja nach wie vor noch Vorsitzender der Seniorenunion der CDU Meckenheim und stellvertretender Vorsitzender der Seniorenunion auf Kreisebene.
AGEV: Die Welt befindet sich im permanenten Krisenmodus. Auf die Coronakrise, die ja noch in Ihre Amtszeit fiel, folgte wenige Monate später der Krieg in der Ukraine und die damit verbundene Energiekrise. Wie haben Sie als politischer Mensch die Entwicklung seit Mitte 2021 erlebt?
Leonhard Müller: Ich habe die Entwicklung nicht nur erlebt, sondern in vielen Bereichen – ausgenommen die Corona-Pandemie – auch vorausgesehen. Zweifellos hat Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem Begriff „Zeitenwende“ den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber dieser Begriff muss auch mit Leben gefüllt werden! Denn wenn starken Kanzlerworten nichts Entsprechendes folgt, sind die Menschen zu Recht enttäuscht.
AGEV: Wie sehen Sie das Verhältnis von Europa und den USA auch in Hinblick auf die Unterstützung im Ukrainekrieg?
Leonhard Müller: In der Außen- und Sicherheitspolitik müssen die Europäer mehr Geschlossenheit und mehr Entschlossenheit zeigen. Oft sind wir nur Getriebene und ergreifen zu wenig die Initiative, wie es für eine geostrategische Macht – aber nicht Weltmacht – angemessen wäre. Denn mittlerweile zeigt sich, dass die Gesellschaft in den Vereinigten Staaten immer mehr auseinanderdriftet. Das könnte dazu führen, dass sich die USA Schritt für Schritt aus ihrer weltpolitischen Verantwortung zurückziehen. Der überhastete Rückzug aus Afghanistan ist ein Beispiel dafür. Ich schaue daher mit großer Sorge auf die kommenden US-Wahlen. Denn dabei wird es vor allem darum gehen, ob der US-Bevölkerung weitere Milliardenhilfen für die Unterstützung der Ukraine zuzumuten sind – angesichts der eigenen innenpolitischen Probleme und der viel geringeren militärischen Unterstützung durch Deutschland und Europa. Würden die USA ihre Unterstützung zurückfahren oder gar beenden, müsste Europa allein die riesige Lücke füllen, was militärisch schwierig bis unmöglich würde und zu großen Verwerfungen führen könnte.
AGEV: Welche Tipps geben Sie der jungen Generation, die sich ja zum Teil wegen der Klimakrise als „letzte Generation“ empfindet?
Leonhard Müller: Mit Blick auf die zu erwartende Klimakrise habe ich großes Verständnis für die Sorgen und Ungeduld vieler Aktivisten und Aktivistinnen aus der jungen Generation. Aber diese Generation ist meiner Überzeugung nach keineswegs die „letzte Generation“, sondern genauso wie alle Generationen davor, in der Pflicht, die Zukunft ihrer Kinder zu gestalten. Dazu bietet unser demokratisches System eine Fülle an Informations- und Wahlmöglichkeiten. Wofür ich gar kein Verständnis habe: wenn versucht wird, Ziele mit Gewalt zu erreichen. Autos anzuzünden, Schaufenster einzuschlagen, Kunstwerke zu zerstören oder Rettungsdienste und andere zu blockieren sind keine legitimen Formen des Protests, sondern Straftaten, für die die Täter zur Verantwortung gezogen werden müssen.
AGEV: Wie beurteilen Sie die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland?
Leonhard Müller: Kurzfristig bin ich relativ optimistisch. Die Inflation wird in kleinen Schritten zurückgehen und die Wirtschaft wird wieder anspringen. Auch die Abhängigkeit der Unternehmen von einzelnen Partnern wie China wird mittelfristig sinken. Was mir langfristig allerdings große Sorgen macht, ist der immer schlimmer werdende Fachkräftemangel und die überbordende Bürokratie in Deutschland. Wir sind zu mutlos, zu einfallslos, zu kompliziert, zu langsam und zu ineffizient geworden. Für den Umbau benötigen wir nicht immer mehr Beamte und Mitarbeitende im öffentlichen Dienst, sondern gut ausgebildete Erfinder, Gründer und Gestalter – also Menschen wie diejenigen, die einst den heutigen Wohlstand geschaffen haben. Ansonsten verlieren wir immer mehr den Anschluss. Wenn wir nicht endlich gegensteuern, wird der Wohlstand in Deutschland signifikant schrumpfen. Das wiederum wird die Unzufriedenheit weiterwachsen lassen und könnte irgendwann unser demokratisches System in seinen Grundpfeilern gefährden. Wir haben ja in der Vergangenheit sehen können, wie in Ländern wie Russland, der Türkei und China Autokraten ihre Macht immer weiter ausgebaut und grundlegende Freiheits- und Menschenrechte immer weiter abgebaut haben. Ich hätte nie gedacht, dass einzelne Menschen jemals wieder solche Macht über ihr Volk erlangen können – darin sehe ich die größte Gefahr für die Zukunft.
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