„Wir müssen auf Risikominimierung setzen“
Reinhard Bütikofer, Vorsitzender der China-Delegation des EU-Parlaments, warnt seit geraumer Zeit davor, dass eine zu große Abhängigkeit von China die nationale Sicherheit und deutsche Interessen gefährdet. Wir sprechen mit dem Grünen-Politiker über Risikominimierung statt Entkopplung, Wege aus der Abhängigkeit und die gemeinsame China-Strategie der EU.
AGEV: Wie kann die Politik die Wirtschaft unterstützen, Deutschlands Abhängigkeit von China abzubauen?
Reinhard Bütikofer: Die bittere Erfahrung mit Deutschlands langjähriger, fossiler Energieabhängigkeit von Russland hat uns drastisch vor Augen geführt, dass man autoritären Regimes nicht die Möglichkeit einräumen sollte, bestehende Abhängigkeiten als wirtschaftliche Waffe gegen uns zu nutzen. Das gilt eben auch für China, das noch größeren Machthunger hat als Russland und wirtschaftlich eine wesentlich größere Rolle spielt. Chinas Regime hat wiederholt gezeigt, dass es bereit ist, Abhängigkeiten als Droh- und Druckmittel zu verwenden. Davon können Japan, Australien, Südkorea, Litauen, Schweden, Norwegen, Tschechien, Taiwan und andere ein Lied singen.
Riskante Abhängigkeiten abbauen hat aber nichts mit dem viel genannten Decoupling zu tun. Das kann nicht unsere Strategie sein, sondern wir müssen auf Risikominimierung setzen, de-risking. Dazu gehört, unsere sensible Infrastruktur zu schützen und sie nicht in autoritäre Hände fallen zu lassen. Dazu gibt es die deutsche und europäische Gesetzgebung, die man noch verbessern kann. Zweitens müssen wir verhindern, dass wir in eine Technologieabhängigkeit rutschen. Europäische Innovation bei den modernen Produktionstechnologien braucht deshalb höhere Priorität. Der europäische Chips Act versucht in diese Richtung zu gehen. Drittens müssen wir resilientere Lieferketten aufbauen. Seltene Erden sind gar nicht so selten, aber 95 Prozent von ihnen werden in China verarbeitet. Da wird man leicht erpressbar. Warum nicht mehr mit anderen, rohstoffreichen Ländern zusammenarbeiten? Auch Recyclingtechnologien können helfen, Abhängigkeiten zu reduzieren. Das sind Themen für den Critical Raw Materials Act der EU, dessen Entwurf im März veröffentlicht werden soll. Und schließlich wollen wir die Wirtschaft unterstützen, andere Märkte stärker zu erschließen, auch durch Handelsabkommen. Export- und Investitionsgarantien müssen nicht blind China bevorzugen. Indien, Indonesien und Japan zusammen sind 2040 wirtschaftlich bedeutender als China. Afrika ist überhaupt der kommende Kontinent. Europäisch finanzierte Infrastrukturinvestitionen für die ökologisch-digitale Transformation unter der Ägide der Global Gateway Initiative der EU im Zusammenwirken mit Partnern einer vertrauenswürdigen Konnektivität können da eine positive Rolle spielen.
AGEV: Eines von vielen Beispielen, das veranschaulicht, wie sehr wir uns an China binden, ist, dass fast 80 Prozent der Wirkstoffe für Antibiotika in der EU aus China kommen. Wie schwierig wird es, gerade in solch kritischen Bereichen gegenzusteuern?
Reinhard Bütikofer: Da kann man vielleicht von Japan etwas lernen. Das Land hat mit dem Konzept der „ökonomischen Sicherheit“ ein auch für uns wichtiges Leitprinzip formuliert. Und als man in Japan im Rahmen der Pandemie-Bekämpfung darüber erschrak, wie sehr man im Bereich der Gesundheitswirtschaft von China abhängig war, wurde ein Programm aufgelegt, um den Aufbau von zusätzlichen Produktionskapazitäten im eigenen Land sowie in Südostasien zu subventionieren. Kleinere Unternehmen konnten bis 75 Prozent der Kosten als Zuschuss bekommen. Meines Wissens war das ein erfolgreiches Modell. Aber natürlich sollen sich Unternehmen nicht generell zurücklehnen, bis der Staat mit Geld winkt. Gerade viele mittelständische Unternehmen sind längst auf dem Weg der Diversifizierung, weil es eben nicht nur auf Kosteneffizienz ankommt, sondern auch auf wirtschaftliche Sicherheit.
AGEV: Wie wichtig ist eine gemeinsame China-Strategie der EU, welche Schritte sind jetzt gefordert?
Reinhard Bütikofer: Strategie fängt mit Verstehen an. Es gibt eine gemeinsame China-Analyse der EU aus dem Jahr 2019, die sehr realistisch beschreibt, dass China eben nicht nur – wie viele das lange hofften – als Partner verstanden werden kann, sondern auch ein zunehmend schwieriger Wettbewerber und ein systemischer Rivale ist. China beutet unscharfe WTO-Regeln aus, indem das Land marktwirtschaftlichen Wettbewerb durch Subventionsorgien und Dumpingpraktiken verzerrt. China versucht, sein inneres Unterdrückungssystem über die eigenen Grenzen hinaus zum Tragen zu bringen. Kürzlich wurde zum Beispiel bekannt, dass China in vielen Ländern unter der Hand illegale eigene Polizeistationen aufgebaut hat, um ExilchinesInnen, HongkongerInnen, UigurInnen oder TaiwanesInnen zu bedrängen. Außerdem betreibt China eine autoritäre Großmachtpolitik, die die Souveränität oder die territoriale Integrität anderer Länder, die schwächer sind, gerne untergräbt. All das ist heute kein Geheimnis.
Die Frage an die europäische Strategie ist eher, ob die Einsichten auch in ein gemeinsames Verhalten münden. Im wirtschaftlichen Bereich hat die EU da durchaus erhebliche Schritte nach vorne gemacht. Seit 2016 haben wir Stück für Stück Instrumente zum Schutz der europäischen Wirtschaft gegen unfaire chinesische Handels- und Investitionspolitiken geschaffen. Die Arbeit geht weiter; aktuell arbeiten wir an dem sogenannten Anti-Coercion-Instrument*, um uns wirksamer gegen ökonomische Erpressungsversuche wehren zu können. Dann hat die EU 2021 zum ersten Mal seit dem Tienanmen-Massaker von 1989 wieder Sanktionen gegen chinesische Menschenrechtsverbrechen verhängt. Aber zur europäischen Chinastrategie muss auch gehören, intensiver mit gleichgesinnten Ländern zusammenzuarbeiten. Das tun wir mit den USA und Japan. Und wir sollten eine gemeinsame Politik entwickeln, um China von einer Aggression gegen Taiwan abzuschrecken, die verheerende Folgen für die ganze Welt hätte. Nicht zuletzt darf die EU nicht vergessen, dass jede Ignoranz oder Arroganz Europas gegenüber berechtigten Interessen von Ländern aus dem globalen Süden Wasser auf die Mühlen der chinesischen Hegemonialstrategie bedeutet.
Bei allen Problemen mit China ist die Bereitschaft zur Kooperation, wo das möglich ist, weiterhin richtig. Allerdings hat es keinen Sinn, Kooperationslieder zu singen, wo die andere Seite nicht wirklich mitmacht. Bei der Klimapolitik zum Beispiel wäre Kooperation mit China Gold wert. Manche nennen China deshalb einen unverzichtbaren Partner bei Kampf gegen die Klimakrise. Das mit der Unverzichtbarkeit stimmt auf jeden Fall, aber die Partnerschaft fehlt leider oft. Also sollten wir Kooperation nicht mit Selbstbeschwichtigung verwechseln.
Über Reinhard Bütikofer
Reinhard Bütikofer war von Ende 2002 bis Ende 2008 Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Seit Juni 2009 ist der gebürtige Mannheimer Mitglied des EU-Parlaments. Er ist Mitglied des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten (AFET), in dem er Sprecher der Grünen/EFA Fraktion ist sowie stellvertretendes Mitglied des Ausschusses für Internationalen Handel (INTA). Außerdem ist Bütikofer Vorsitzender der Delegation für die Beziehungen zur Volksrepublik China, Mitglied der Delegation für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sowie stellvertretendes Mitglied in der ASEAN-Delegation.
*Das Anti-Coercion-Instrument (ACI) gibt der Kommission Werkzeuge an die Hand, mit denen sie wirtschaftliche Maßnahmen von Drittländern, die darauf abzielen, die Autonomie der EU und/oder ihrer Mitgliedstaaten in unzulässiger Weise zu beeinträchtigen, abschrecken und erforderlichenfalls unterbinden kann.
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