Weckruf für die Bildungspolitik?

Weckruf für die Bildungspolitik?

Im deutschen Bildungssystem knirscht es an allen Ecken und Enden. Lehrkräftemangel, massiver Unterrichtsausfall, marode Schulgebäude, Defizite in der digitalen Bildung: Die Mängelliste ist lang, und jetzt noch der jüngst veröffentlichte IQB-Bericht. Wissenschaftler und Ökonomen fordern mehr denn je, umgehend gegenzusteuern.

Bildungsökonom Ludger Wößmann vom Münchner ifo-Institut sagte kürzlich gegenüber dem SPIEGEL: „Diese riesigen Lernrückstände werden nicht einfach weggehen. Sie werden hohe Folgekosten haben, wenn wir nicht umgehend gegensteuern.“ Er bezieht sich auf den aktuellen Bericht des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) für das Jahr 2021, im Oktober veröffentlicht. Er legt bundesweit große Defizite bei der Leistungsfähigkeit der Viertklässler offen: Nur noch die Hälfte aller Grundschulkinder erreicht die Regelstandards in Lesen, Schreiben und Rechnen, rund 20 Prozent nicht einmal die Mindeststandards. Der Bericht sorgt für Fassungslosigkeit.

Von vielen Seiten wird nun – einmal mehr – ein Aktionsplan aller Akteure im Bildungsbereich gefordert, von Politik und Verwaltung über die Praxis bis hin zur Wissenschaft. Das deutsche Bildungssystem ist nach Ansicht führender Experten dringend modernisierungsbedürftig – Mentalitätswandel eingeschlossen.

Ein weiteres neues Gutachten geht mit dem Bildungssystem hart ins Gericht. In ihrem im September vorgestellten Gutachten stellt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) einen großen Nachholbedarf bei der Digitalisierung von Kitas, Schulen und Hochschulen fest. Dass digitale Medien per se nicht die Lösung sind, dürfte klar sein. Die Experten fordern vielmehr systemische Änderungen – etwa die Einrichtung länderübergreifender „Zentren für digitale Bildung“ – was ein Novum im föderalen deutschen Bildungssystem wäre. Sie fordern außerdem die Einführung eines Pflichtfachs Informatik ab Klasse 5. Die dezentralen Bildungsstrukturen und „Klein-Klein-Denke“ kritisiert auch die Bildungsallianz des Mittelstands. „Seit Jahren kennen wir die Problematik – und doch gelingt es uns nicht, gegenzusteuern. Deutschland als Technologieland, Wirtschafts- und Industrienation ist abhängig von leistungsfähigen Fachkräften. Wir brauchen schlicht fähige Schülerinnen und Schüler“, sagt Professor Dr. Martin Wortmann, Generalsekretär der Bildungsallianz, die eine echte Qualitätswende in der deutschen Bildungspolitik fordert.

Falschen Schwerpunkt gesetzt

Kritisch blickt die SWK auch auf den vorschulischen Bereich – vor allem auf die dort vorherrschende Einstellung. So steht im Gutachten: „Gerade mit Blick auf sehr junge Kinder stehen den Potenzialen früher digitaler Medienbildung große Vorbehalte und Ängste bei Fachkräften, Eltern sowie Vertreter:innen der Wissenschaft gegenüber.“ Will heißen: Die Debatte um eine früh einsetzende digitale Medienbildung ist von angstgetriebenen Gefühlen statt Fakten bestimmt. Laut den Experten spiegelt sich die negative Sicht in den Bildungsplänen mancher Bundesländer wider: Statt die Potenziale qualitativ hochwertiger Medien zu fokussieren, liegt der Schwerpunkt auf der Sorge um „unkontrollierten Konsum“. Auf den richtigen Einsatz digitaler Medien käme es stattdessen an. Die Entwicklung didaktisch hochwertiger Anwendungen soll, so der Appell, in den länderübergreifenden Zentren für digitale Bildung (ZdB) – also zentral statt in den Ländern – gefördert werden, ebenso die dringend nötige Professionalisierung des Lehrpersonals.

Ein Schlüssel: Pflichtfach Informatik

Die Einrichtung des Pflichtfachs Informatik gehört zu den Kernforderungen der Wissenschaftler. Bisher wird das Fach in den Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt, läuft an vielen Schulen noch unter dem Radar und ist anderen MINT-Fächern keinesfalls gleichgestellt. Im Schuljahr 2021 belegten nicht einmal 4.000 Schülerinnen und Schüler das Fach Informatik auf Leistungskursniveau. Eng verknüpft mit der Forderung, es zum Pflichtfach zu machen, ist die Bereitstellung von Lehrkräften, die das Fach unterrichten können. Des „Rattenschwanzes“ ihrer Forderungen sind sich die Wissenschaftler der SWK bewusst, weswegen sie in ihrem Gutachten von einer „enormen Kraftanstrengung aller Akteure im Bildungssystem, von Innovationsbereitschaft und hohen Investitionen“ sprechen.

Der Ruf nach einem Pflichtfach Informatik und mehr bildungspolitischen Kompetenzen für den Bund ist keinesfalls neu. Digitalverbände wie der Bitkom, der eco oder der Bundesverband IT Mittelstand e. V. sprechen sich seit geraumer Zeit dafür aus. Laut einer Umfrage des Bitkom vom Sommer 2021 fordern zudem fast zwei Drittel der Menschen in Deutschland (71 Prozent) Informatik an allen weiterführenden Schulen ab Klasse 5 einzuführen. In seinem Plädoyer „Informatische Bildung als Schlüssel für Zukunftskompetenz“ wird der Bitkom konkret: Er formuliert zehn konkrete Punkte für die erfolgreiche Etablierung eines flächendeckenden, qualitativ hochwertigen Informatikunterrichts. „Digitale Bildung bedeutet nicht nur Wissensvermittlung über digitale Prozesse mithilfe von digitalen Bildungsangeboten und -medien, sondern auch Kompetenzaufbau und ist damit zentrales Rüstzeug für Teilhabe an der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt der Zukunft“, schreibt der Bitkom in seinem Plädoyer.