Editorial AGEV im Dialog September 2024
Vielleicht veranlasste das Eigentor-Festival bei der Fußball-Europameisterschaft eine immer noch große deutsche Boulevardzeitung dazu, sich auch eins einzuhandeln. Im Juli lud sie den Aufsichtsratschef eines großen deutschen Automobilbauers in ihren Podcast ein, um seine Meinung über den Industriestandort Deutschland zu erfahren. Der Interviewer konnte es nicht fassen, als der Industrieboss u. a. das Verbrennerverbot 2035 begrüßte und das Hin und Her in der deutschen Politik geißelte. Trotz mehrerer Nachfragen des ungläubigen Reporters lehnte er das rückwärtsgewandte Denken in nur scheinbar wirtschaftsfreundlichen Parteien ab. Stattdessen verlangte er von der Politik langfristige wirtschaftspolitische Leitplanken, „CO2 auf null in 2045“, klare Rahmenbedingungen, dann könne man arbeiten. Sonst mache China einfach den Job. Die alternativen Energien wüchsen derzeit in extremem Tempo, es fehle nur an Infrastruktur und Netzausbau, denen höchste Priorität einzuräumen sei. Tempo machen statt auf die Bremse treten, ist sein Credo.*
Nach der überwundenen Finanzkrise 2009 hatte Deutschland es sich in seinem Wohlstand bequem gemacht: Russland schenkte uns das Gas, China den Absatzmarkt und die USA die Sicherheit. Wir reagierten wie Rom vor 2000 Jahren mit Bürokratisierung und Normierung unserer Gesellschaft, mit Brand- und noch mehr Datenschutz vom Feinsten und einem unbezahlbaren Ausbau unseres Sozialsystems. Die Annexion der Krim 2014 störte unseren Dauerschlaf nur leicht, wie ein Toilettengang in der Nacht, aber aufgeschreckt sind wir dann mit Pandemie, Überfall auf die Ukraine, Inflation und Flüchtlingswelle. Alle Gewohnheiten werden über den Haufen geworfen, wir müssen uns unseren Wohlstand neu verdienen – und das mit Viertagewoche und Work-Life-Balance-Ambitionen.
Den Deutschen ginge die Transformation zu schnell, hört man, die Gesellschaft sei überfordert. Man müsse den Klimaschutz überdenken, die Menschen könnten nicht alles gleichzeitig – dabei brennt die Welt an allen Ecken und Enden. Zaudern, zögern, zerreden und zerstreiten sind die Reaktionen der Politik, die in ihrem Vierjahreswahlzyklus wie das Kaninchen vor der Schlange vorm Wähler erstarrt. Die Populisten mit ihren Null-Lösungen stehen staunend daneben und müssen nur einsammeln.
China und USA haben begriffen und handeln. Dort wird gerade in maximalem Tempo die Energiewende ausgebaut. Biden hat ein ein 400-Mrd.-$-Programm auf die Beine gestellt und lockt damit kluge deutsche Unternehmer an. China stampft die Genehmigungen für 80 Prozent der geplanten Kohlekraftwerke ein und räumt Sonnen- und Windenergie den Vorrang ein. Nicht weil USA und China plötzlich ergrünt sind, sondern weil sie Geld verdienen wollen. Dabei wäre Deutschland mit 20 Jahren Vorsprung bei den Erneuerbaren Energien prädestiniert für dieses Geschäft. Wir haben immer noch viele der Kompetenzen, die jetzt gefragt sind. Im Bau effizienter Elektromotoren sind wir vorn mit dabei, Batterien- und Lasertechnologie, Recycling und Energiemanagement, Automatisierung und Robotics. Was interessiert uns der Fachkräftemangel, wenn Roboter den Job erledigen können? Selbst bei Künstlicher Intelligenz haben wir mehr Potenzial als die meisten anderen. AGEV im Dialog stellt seit Jahren solche vielversprechenden Beispiele vor. Wir müssen es nur tun!
Liebe Politiker, setzt die Rahmenbedingungen und gebt uns die oben genannten Leitplanken. Regelt das Große und verbietet nicht das Kleine! Performance ist angesagt, nicht Regulierung. Vertraut den Unternehmern, und wir kriegen Deutschland wieder flott. Nicht morgen und nicht ohne Schrammen und Schmerzen, aber nachhaltig und mit klarem Kurs. Transformation ist anstrengend und kompliziert, dazu teuer und unbequem, aber der einzige Weg.
* Das gelte allerdings nicht für die Straße, für die er sich implizit für ein Tempolimit aussprach: E-Auto-Fahren entschleunigt. Lesen Sie dazu auch unseren Einwurf.
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